Neue Luzerner Zeitung, 6. Juni
2001
Eine Exekution, die mich quält
Die aktuelle Situation im
Nahen Osten lässt am 34. Jahrestag des Sechstagekriegs Erinnerungen an ein
Massaker an jungen Palästinensern hochkommen: In der Region droht eine
Katastrophe.
Die israelischen Medien, die ich praktisch Tag und Nacht per Internet und Radio
verfolge, berichten seit einiger Zeit über eine bevorstehende Wiederbesetzung
der Westbank. Es werden unter anderem auch furchtbare Szenarien mit Tausenden
von Toten auf palästinensischer, Hunderten auf israelischer Seite und
Aussichten auf einen Regionalkrieg mit möglichen nuklearen Dimensionen
skizziert.
Obwohl ich seit über 20 Jahren hier in der Schweiz wohne, quälen mich vermehrt
meine schrecklichen Erlebnisse als junger Soldat bei der Besetzung dieser
Gebiete im Jahre 1967
Bereit zu sterben
Ich gehörte einer Einheit an,
die die Stadt Nablus in der Westbank eroberte. Die meisten von uns waren
Gymiabgänger, die in sozialistischen Jugendbewegungen jahrelang zum Humanismus
erzogen worden waren. Unseren Militärdienst hatten wir mehrheitlich in
Kibbutzim, sozusagen als Lehrlinge zu zukünftigen Kibbutz-Mitgliedern,
verbracht. Militarismus und Militärkarriere waren nicht unsere Sache. Wie
praktisch alle damaligen jüdischen Israelis waren wir jedoch bereit, für unser
Land zu sterben.
Wir wurden schon in der Schule und in der Jugendbewegung auf den Militärdienst
vorbereitet. Uns wurde unter anderem der Begriff «die Reinheit der Waffen»
gepredigt, nämlich dass unsere Armee mit allen Mitteln versuche, Gräueltaten zu
vermeiden. In der Literaturstunde setzten wir uns mit den Kurzgeschichten des
Schriftstellers S. Yizhar auseinander. Zentrales Thema seiner Kurzgeschichten
ist die Vertreibung der Palästinenser im Jahre 1948. In Yizhars Erzählband wird
auch eindrücklich beschrieben, wie einem Soldaten der Protestschrei gegen die
Untaten seiner Kameraden buchstäblich im Halse stecken bleibt. Ein anderer, der
seiner Empörung über die verbrecherischen Befehle Luft macht, wird von seinen
Kameraden als Weichling belächelt und gehänselt.
Einsatz in der Westbank
Am 19. April 1967 stieg die
Spannung in der Region. Unser Land sei enormer Gefahr ausgesetzt, wurde
verbreitet. Ägypten, Syrien und Jordanien planen einen Angriff, hiess es, und
Israel mobilisierte seine Truppen.
Am 5. Juni brach der Krieg aus. Wir waren damals gegenüber den Golan-Höhen im
Norden stationiert. Einen tief fliegenden Kampfjet hielten wir für eine
kanadische Maschine. Wir kamen aus unserem Versteck im Wald und applaudierten
der vermeintlich solidarischen Geste. Es war, wie wir später erfuhren, ein
syrisches Kampfflugzeug. Nachdem klar geworden war, dass Syrien, abgesehen von
solch symbolischen Akten, nicht in das Kriegsgeschehen eingreifen würde,
kommandierte man uns in die Westbank ab.
Ohne in ein Gefecht verwickelt zu werden, erreichten wir am Morgen des 7. Juni
die Stadt Nablus. Wir kamen mit Bussen der Gesellschaft Egged von Osten her.
Ich glaube, es war das erste und letzte Mal, dass die palästinensische
Bevölkerung so leidenschaftlich israelische Soldaten begrüsste. Sie hielt uns
für eine irakische Verstärkung. Als die Bewohner den Irrtum feststellten,
ergriffen viele die Flucht. Wir durchkämmten die hastig verlassenen Häuser, in
denen zum Teil sogar noch Mahlzeiten auf den Esstischen standen.
Befehl zur Exekution
Aus Lust auf ein bisschen
Action begann einer meiner Kameraden, der sonst immer den Moralapostel gab, in
einem Wohnhaus herumzuballern. Nur unsere einheitliche Empörung stoppte den
schiessfreudigen «Prediger».
Es kam aber noch dicker.
Wir kehrten zu unserem Sammelpunkt am Stadtrand zurück. Bald wurde eine Gruppe
von zirka zehn verängstigten jungen Arabern zu uns gebracht. Es wurde erzählt,
dass Einheiten unseres Bataillons auf massiven Widerstand im Stadtzentrum
gestossen seien und es entsprechend auch einige Verluste auf unsere Seite gab.
Darauf wurde ein Ausgehverbot für die palästinensische Bevölkerung verhängt.
Die zehn Männer, die offensichtlich keine Ahnung davon hatten, wurden auf der
Strassen von Patrouillen erwischt.
Der Bataillonskommandat behauptete, dass diese Leute jordanische Soldaten
seien, die sich ihrer Uniform entledigt hätten und in Zivilkleidung geschlüpft
seien. Deshalb sollten sie als Spione behandelt werden. Der Kommandant erteilte
den Befehl, diese vermeintlichen «Agenten» zu exekutieren.
Wie gelähmt zugeschaut
«Wir sind Soldaten und keine
Mörder. Das machen wir nicht», empörte ich mich und drückte damit praktisch die
Meinung fast des ganzen Zuges aus.
Danach herrschte Stille, die nur durch das Gewimmer eines dieser armen
Todeskandidaten unterbrochen wurde, der gemerkt haben muss, was ihn erwartete.
Er kroch am Boden und kratzte die Erde mit seinen Fingernägeln auf. Noch heute
verfolgen mich seine flehenden, fast unmenschlichen Laute.
Es meldeten sich dann doch zwei Freiwillige, die sich ansonsten, wenn es
gefährlich war, immer zu verstecken wussten. Sie erklärten sich bereit, das
Gemetzel durchzuführen.
Wir waren entsetzt und hatten das Gefühl, dass unsere Befehlsverweigerung im
Schlachtfeld den Bogen schon arg strapaziert habe. Deshalb schauten wir wie
gelähmt zu, als die wehrlosen Menschen abgeführt wurden. Später hörten wir die
Schüsse.
Niemand sagte etwas.
Schreckliche Erkenntnis
Jahrelang war ich der Meinung,
dass wir mit unserer Verweigerung in Nablus das Mögliche getan hätten. Wie eine
Zeitbombe explodierte einige Jahre später in mir die Erkenntnis: «Auch ich bin
Teil eines Kriegsverbrechens. Zwar verweigerte ich einen illegalen Befehl, das
Massaker habe ich trotzdem nicht zu verhindern versucht!»
Die Siegeseuphorie, welche das Land nach dem Krieg überrollte, widerte mich an.
Mit der Zeit fühlte ich mich mehr und mehr von der Regierung betrogen. Ich war
ja nicht in den Krieg gezogen, um neue Gebiete zu erobern, sondern mein Land zu
verteidigen, wie mir vorgegaukelt wurde. Ich war anfänglich so naiv zu glauben,
dass es nun endlich eine gute Chance für einen Frieden gebe. Die Rückgabe der
eroberten Gebiete sollte einen Friedensvertrag mit den arabischen Ländern
ermöglichen. Es kam bekanntlicherweise völlig anders.
Eine Horrorvision
Heute, wo die israelischen
Generäle sehr stark auf eine Wiederbesetzung der palästinensischen Gebiete
drängen und dieser Schritt nur eine Frage der Zeit ist, wird mir ganz elend.
Mir sind die jetzigen Pläne der israelischen Armee in etwa bekannt, wie zum
Beispiel die «Operation Dornenfeld», welche mit der Tötung von 10 000
Palästinensern, mit bis zu 2000 israelischen Toten und mit neuen Vertreibungen
rechnet.
Diese Horrorvision bereitet mir schlaflose Nächte. Ich weiss, die israelischen
Soldaten und Offiziere sind inzwischen noch skrupelloser geworden. Leute, die
ich gut kenne und auch sehr gerne habe, schreien wie Berserker nach Rache und
mehr Gewaltanwendung gegen die Palästinenser. Und ich weiss auch, dass die
wenigen mutigen Israelis, die den Kriegsdienst verweigern oder sonst gegen die
sich anbahnende Katastrophe protestieren, diese wohl kaum abzuwenden vermögen.
Genauso wenig, wie wir vor 34 Jahren das Massaker verhinderten.
SHRAGA ELAM*
*Shraga Elam ist
israelischer Friedensaktivist und Recherchierjournalist in Zürich mit den
Spezialgebieten Nahostkonflikt und Zweiter Weltkrieg.
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