Erstveröffentlichung in Inamo Nr. 62, Sommer 2010.
Der israelische Professor Shlomo Sand löste mit seinen Thesen über den mythischen Charakter des jüdischen »Volkes« eine internationale Debatte aus. Was sind die politischen Konsequenzen seiner Behauptungen, wenn es solche denn überhaupt gibt?
Der anerkannte Historiker der Uni Tel-Aviv, Shlomo Sand, nimmt in seinem kürzlich auf Deutsch erschienenen Buch in Anspruch, Beweise zu haben, dass das jüdische Volk eine Fiktion sei und die meisten Juden gar nicht aus Palästina stammen. Politisch verwickelt sich Sand jedoch in einen Widerspruch. Denn in zahlreichen Interviews und Vorträgen fordert er nicht die Auflösung des Judenstaates bzw. den Rückzug der meisten Juden aus dem Nahen Osten, was seine Thesen ja nahelegen müssten. Sogar der zionistische Polemiker Henryk Broder ging weiter, als er vor Jahren schrieb, dass es gerechter gewesen wäre, einen Judenstaat in Deutschland und nicht in Palästina zu errichten.
Sand im Getriebe des jüdischen »Volkes«
Einige politische Überlegungen zur Sand-Debatte
Von Shraga Elam
Shlomo Sands historische Beweisführung weist zwar etliche Schwächen auf, aber gleichzeitig ist zu sagen, dass alle "Völker" auf Mythen und Sagen gegründete imaginäre Gebilde sind, nur dazu geschaffen und noch heute aufrecht erhalten, um mehrheitlich einer herrschenden Klasse zu dienen, und zwar gerade gegen die Interessen des jeweiligen "Volkes". Gleiches gilt für die "Nation". Denn die einzige stichhaltige Definition, wonach diese eine Gruppe von Menschen bezeichnet, die von diesen selber oder von anderen als eine "Nation" bzw. "Volk" betrachtet wird, ist nichts anderes als eine Tautologie.
Solange die Palästinenser und die jüdischen Israelis nationalistischen Fantasien nacheifern, ist kein vernünftiger und einigermassen gerechter Ausweg aus der jetzigen gefährlichen Sackgasse möglich.
Politisch gesehen stellt sich die Frage, inwiefern es heute von Bedeutung sein kann, ob die meisten Juden aus Palästina stammen oder nicht. Auf den ersten Blick scheint sie sehr zentral, denn für den Zionismus ist der Anspruch, sämtliche Juden zu vertreten und ihnen einen Zufluchtsort in der vermeintlich ursprünglichen Heimat anzubieten, sehr wichtig. Dies kommt unter anderem im israelischen "Schwut-(= Rückkehr-) Gesetz" zum Ausdruck, welches praktisch allen Menschen, die mindestens einen jüdischen Grosselternteil haben und entsprechend auch von den Nazis verfolgt worden wären, die automatische Einbürgerung gewährt. Das Rückkehr-Gesetz reflektiert lediglich die opportunistische Art, wie ein Teil der ersten zionistischen Führung mit der jüdischen Geschichte und Religion umging. Einige wie Dow Borochow meinten, es sei wegen des religiösen Hintergrunds einfacher, Juden für einen jüdischen Staat in Palästina zu mobilisieren, als für Alternativen wie Uganda.
Es ist wichtig zu betonen, dass diese Frühzionisten mehrheitlich säkular waren. Ihre Motivation war weniger historisch oder religiös, sondern eher pragmatisch darauf gerichtet, eine Antwort auf die Judeophobie anzubieten, was bis heute übrigens der Hauptgrund für die Unterstützung des Zionismus durch säkulare Juden und Nicht-Juden ist. Nach alledem beruht der wichtigste zionistische Mythos auf dem Irrglauben, dass ein jüdischer Staat - und zwar in Palästina - die einzige Lösung für die existierende bzw. vermeintliche Judeophobie sei.
Insofern greift Sand den falschen Mythos an, wenn es wirklich sein Ziel ist, die Grundlage des Zionismus zu zerstören. Denn die entscheidende Frage kommt bei ihm erst an zweiter Stelle: warum die begründete und weniger begründete jüdische Paranoia ausgerechnet auf Kosten der Palästinenser therapiert wird; ebenso dann auch die krampfhaften Versuche, dies zu rechtfertigen.
Betrachte ich die eigene Familiengeschichte, so bin ich überzeugt, dass mein Vater 1933 in München Zionist wurde, weil ihn kurz davor das Deutsche Rote Kreuz auf Anordnung der Nazis als Freiwilligen hinaus geworfen hatte. Tief gekränkt entschloss er sich auszuwandern. Dass seine Wahl auf Palästina fiel, hatte bestimmt weniger historische und religiöse Gründe, denn er war antireligiös und seine Eltern antizionistisch. Da spielte weniger die Tatsache eine Rolle, dass er ein Levi war, also ein Mitglied jenes Stammes, dessen Zugehörigkeit nur vom Vater auf den Sohn vererbt und nicht durch Konversion erworben werden kann.
Wenn Sand also behauptet, dass die meisten europäischen Juden konvertierte Khazaren seien, so trifft diese umstrittene These auf meine väterliche Linie nicht zu. Denn es ist davon auszugehen, dass diese Linie aus Palästina stammt. Nur stellt sich die Frage, ob diese Abstammung als Grundlage für eine "Volkszugehörigkeit" ausreicht und meiner Familie und mir das Recht gab und gibt, Palästina zu besetzen und die Bewohner zu unterdrücken bzw. zu vertreiben.
Sogar wichtige zionistische Führer wie Ben-Gurion waren der Meinung, dass die meisten arabischen Bewohner Palästinas Nachkommen von Juden seien, die das Land nie verlassen haben und im Laufe der Jahrhunderte zum Islam konvertierten. Auch israelische Rechtsradikale glauben heute daran und bringen als Beweis dafür nicht nur genetische Forschungen, sondern auch Beispiele von Palästinensern, die bestimmte jüdische Rituale pflegen.
Entsprechend sieht der Konflikt zwischen Juden und Arabern in Palästina nach einem Bruderzwist aus, und bestimmte jüdische Rechtsradikale hoffen auf die Beilegung dieses Streits durch einen gemeinsamen pluralistischen Staat. Sie erwarten dabei nicht, dass die vermeintlichen oder wirklichen ehemaligen Juden zurück zum Judentum übertreten werden. Nach Meinung des Hi-Tech-Unternehmers Zvi Mesinai, der die Idee seit Jahren messianisch propagiert, gewinnt seine Vision auch unter Palästinensern Anhänger.
Shraga Elam ist israelischer anti-zionistischer Aktivist und Journalist mit Wohnsitz in Zürich.
Guten Abend,
ReplyDeleteich dachte im Judentum läuft seit dem 10.Jhr. die Weitergabe der Zugehörigkeit zum Judentum über die Mutter?! Ist das bei den Leviten anders?
Gibt es denn heute noch Stammbäume die bis in die biblischen Zeiten zurückreichen, um, zu belegen eine "echter" Levi zu sein?
Welche Garantie haben sie, das nicht doch einer ihrer Vorfahren ein Konvertitwar, der den Namen "Levi" annahm?
Grüße Konrad