Thursday, November 17, 2011

Nachtrag zum Blog-Artikel über Gilad Atzmon

Da ich eine kritische Reaktion auf die Atzmon-Analyse erhielt, fühle ich mich genötigt, hartnäckigen Atzmons-Fans und Verleugnern seiner Holocaust-Leugnung meine Argumentation deutlicher zu machen.
Ein jüdischer Aktivist, dessen Vater Auschwitz überlebte und den ich eigentlich schätze, schrieb mir: «Ich erkenne bisher keine Holocaust-Leugnung. What's the fuss about?»
Meine erste spontane Reaktion war: Dem ist nicht zu helfen. Im zweiten Gedanken habe ich mir überlegt, dass er sicherlich nicht die einzige so denkende Person ist, sondern es bestimmt noch weitere Friedensbewegte, Linke usw. gibt, die zwar sehr borniert und dogmatisch agieren (dies ist bekanntlich nicht ganz neu), es aber sehr gut meinen und dabei der gerechten Sache enorm schaden. Das Gegenteil von gut ist gut gemeint, besagt denn auch ein deutscher Spruch. Insofern lohnt es sich also vielleicht doch, dass ich einen weiteren Erklärungsversuch wage:
Ich wiederhole mich ungern, es stellt sich jedoch die Frage, was Atzmon uns "Holocaust-Religionsgelehrten" vorwirft. Die Antwort ist sonnenklar:
Wir weigern uns, den NS-Judeozid in Frage zu stellen bzw. zu leugnen.
Atzmon schreibt deutlich:
«Most of the scholars, if not all of them, do not challenge the Zionist narrative, namely Nazi Judeocide...»
Auf Deutsch:
«Die Mehrheit der [Holocaust-Religions-] Gelehrten, wenn nicht gar alle, stellen den zionistischen Narrativ, nämlich den NS-Judeozid, nicht in Frage
Es geht hier nicht um eine blosse Feststellung, sondern um einen richtigen Vorwurf. Hinzu kommt, dass Atzmon den NS-Judeozid als einen lediglich zionistischen Narrativ bezeichnet. Was bedeutet dies? Dass angeblich nur Zionisten die NS-Verbrechen als Genozid betrachten und Atzmons "friedliebendes" Publikum ganz genau weiss, was von zionistischer Geschichtsschreibung pauschal zu halten ist. Also sagt Atzmon im Klartext: Der NS-Judeozid ist eine zionistische Erfindung!
Das Unwort Narrativ hat sich übrigen durch die sogenannten post-modernen Philosophen eingebürgert und beruht auf ihrer Behauptung, man könne die Wahrheit nie erfahren. Und sollte  man sie doch finden, könne man nicht absolut sicher sein, sie auch wirklich begriffen zu haben. Insofern gibt es gemäss der Post-Moderne nur Narrative, also Erzählungen, die eigentlich nie zuverlässig sind.
Zu einem anderen Sachverhalt: In seinem Grußwort an der Stuttgarter 'Ein-Staat'-Konferenz vom vergangenen Dezember sagte Atzmon u.a.:
«...irgendwie vergessen wir oder weisen die Tatsache von uns, dass das Wort „universal“ für die jüdische Kultur sehr fremd ist. Die jüdische Kultur ist stammesorientiert. Wir neigen dazu,die klare Tatsache zu übersehen, dass das Wort „Frieden“ – wie wir es kennen - eine ArtVersöhnung oder „Liebe deinen Nächsten“ für die jüdische Kultur sehr fremdartig ist
Israelis verwenden das Wort „Shalom“ – sicher haben Sie das Wort Shalom schon vorhergehört – doch Shalom bedeutet nicht Frieden: Tatsächlich bedeutet „Shalom“ Sicherheit für
Juden – und nur für Juden. Das ist ein großer Unterschied
http://www.ipk-bonn.de/downloads/ro.20110228.Gilad_Atzmon_in_STutt_11_2010.pdf

Wer Atzmon im O-Ton hören und sehen will kann ihn hier "geniessen":
Grundsätzlich ist dazu zu sagen, dass wer eine komplexe Religion bzw. eine Kultur (im ethnologischen Sinn) positiv oder negativ auf ein einziges Prinzip reduziert, ein Rassist ist. Die jüdische Religion umfasst, wie andere Weltreligionen, verschiedene und auch sehr gegensätzlich Strömungen, und dies betrifft auch das, was hier als jüdische Kultur bezeichnet wird. Ich habe Mühe mit jenen, die die jüdische Tradition als nur von Nächstenliebe (fälschlicherweise Humanismus genannt, als ob Bosheit nicht auch menschlich wäre) geprägt ansehen. Genauso aber missfällt mir, wie anderseits beispielsweise Israel Shahak oder noch stärker Gilad Atzmon, ebenso einseitig nur das Böse in der jüdischen Religion/Kultur sehen wollen.
In der jüdischen Religion gibt es zwei grosse Schulen, jene von Rabbi Hillel (menschenfreundlich und offen) und die von Rabbi Shamai (streng und menschenfeindlich).
Es ist nicht zu übersehen, dass diese zwei religiösen Strömungen auch säkulare Juden beeinflussen und dies noch immer tun.
Und es ist auch nicht zu übersehen, dass eine auffallend grosse Anzahl jüdischer Menschen sich für universelle Werte einsetzten bzw. einsetzen. Diese Leute haben im unterschiedlichen Mass ihr Jüdischsein betont. Wenn sie es nicht taten, wusste die Gesellschaft sie daran zu erinnern. Auch Atzmons deutsche Verehrerin, Evelyn Hecht-Galinski, wird nicht müde, ihre "eigene" grösste Leistung zu erwähnen, nämlich, dass sie die Tochter des verstorbenen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, ist.
Wenn Atzmon, der selber auch von seinem Jüdischsein profitiert, diese universalistische jüdische Vergangenheit und Gegenwart verleugnet und nur die jüdischen Hardliner hervorhebt, ist er bewusst sehr weit von der Wahrheit entfernt. Es ist recht überraschend, dass viele belesene und gut informierte Leute, die angeblich anti-Rassisten sind, eine solch plumpe und krude Judeophobie nicht zu erkennen vermögen.
Atzmon tut mit der jüdischen Kultur genau das, was Henryk M. Broder gegenüber der islamischen bzw. arabischen Kultur macht. Eigentlich handelt es sich bei den zwei Polemikern um rassistische Zwillinge, und ich habe die Ehre, beide als Feinde zu haben.
Atzmons Lektion in Hebräisch über die Bedeutung des Wortes Shalom ist genauso bewusst verfälschend, wie seine obige Schilderung der "jüdischen Kultur". Zweifelsohne hat das Wort "Shalom", wie das "Frieden" auf Deutsch oder "Peace" auf Englisch, unterschiedliche Bedeutungen. Dies ist wirklich nicht speziell für Israel oder Hebräisch. Und weltweit verwechseln viele, die vom Frieden reden, diesen oft - absichtlich oder unabsichtlich - mit negativer Befriedung oder anderen unterdrückerischen Zuständen.
Man brauchte wirklich nicht auf Atzmon zu warten, um beispielsweise den Oslo-"Friedensprozess" zu kritisieren und auch die mehrheitlich nicht so friedlichen Absichten israelischer "Friedensbewegungen" wie "Frieden Jetzt" zu erkennen. Trotzdem gibt es auch dort an der Basis Personen, die es gut meinen und die nicht realisieren, wie sie manipuliert werden.
Wenn man, wie Atzmon bzw. die Teilnehmer der oben erwähnt Stuttgarter Konferenz, vorgeben, wirklich für einen gemeinsamen demokratischen Staat zu sein, müssten sie unbedingt auch auf den Weg dorthin zeigen. Hasstiraden und Hetze anstelle von berechtigter Kritik und konstruktiven Vorschlägen aber, führen bestimmt nicht in diese sehr wünschenswerte Richtung.

1 comment:

  1. Wieso brauchten Sie mehr als ein Jahr, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen?

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