Sunday, November 20, 2011

DIE FRAU IM KÜCHELBERG


Dieses Märchen schickte mir meine liebenswürdige und grosszügige Schwiegermutter. Die Volkserzählung hatte Ihre Mutter, Regina Hauser, niedergeschrieben (s. Original). Im Geiste dieses Geschichtleins erzog meine Schwiegermutter auch ihre weitherzigen Kinder. Des Zauberns mächtige und verwandelte Prinzen bzw. Prinzessinnen haben sie trotzdem nicht angetroffen. Aber: Lieber ein verwandelter Prinz als eine verbrünzelte Wand, besagt ein humorvoller Schweizerdeutscher Spruch (Brunz=derb für Urin). Die Nachkommen fanden zur Strafe also nur bezaubernde Personen wie mich😄.
Sehr grausame Textstellen pflegte meine Schwiegermutter allerdings zu entschärfen. In dieser Art trug sie beispielsweise, zum Vergnügen ihrer Sprösslinge, auch die Verse aus dem Reineke Fuchs auf Schweizerdeutsch vor, Unmenschliches und allzu  Boshaftes nach ihrem Sinne kindgerecht zensiert. Und so halten es auch wieder Ihre kleinen Grossen, wenn sie Knirpsen Geschichten erzählen. Und wenn sie nicht gestorben sind...
Regina und Eugen Hauser-Landolt auf einer Schifffahrt
 
DIE FRAU IM KÜCHELBERG [1]

Vor langer, langer Zeit lebte einmal eine reiche Bauersfrau. Ihr Hof war der schönste weit und breit, mit Feldern so weit wie der Himmel, mit Wiesen voll von gelbem Löwenzahn und Butter­blumen, mit Ställen voll des schönsten Viehs und Scheunen voll guten Korns. Der Hof aber hiess «der Küchelberg,» und die Frau «Die Frau im Küchelberg.» Der Hof lag auf einem grossen sanften Hügel und in diesen Hügel führte ein unterirdischer Gang in ein Gewölbe. Dort hortete die Frau ihr Gold, denn die Frau im Küchelberg, so reich sie war, so geizig war sie auch, und ihre liebste Beschäftigung war, bei ihrem Gold zu sitzen, es zu betrachten und sich daran zu freuen. Da konnte sie stundenlang sitzen, die Goldstücke streicheln, zu Beigen aufstapeln, wieder auszubreiten und zu liebkosen, dabei sie unaufhörlich murmelte: «Ihr lieben Goldvöglein, ihr meine goldenen Küchlein.» Das Gewölbe aber lag hinter sieben starken Toren und die Frau verschloss jedes mit einem eigenen Schlüssel und alle sieben Schlüssel hingen Tag und Nacht an ihrem Gürtel. Beim Gold aber hielt sie einen bunten, grossen Vogel gefangen, der sprechen konnte. Und immer wenn die Frau in den Berg stieg, hinter die sieben Türen zu ihrem Golde, da fragte sie den Vogel: «Wer hat am meisten Goldvöglein, wer hat am meisten goldene Küchlein?» Da antwortete der Vogel: «Die Frau im Küchelberg». Da war die Frau sehr zufrieden und ihr Herz hüpfte im Leibe.
So lieb sie aber die Goldstücke hatte, so böse war sie mit den Menschen. Ihre Knechte und Mägde assen ein hartes Brot: Von morgens früh bis abends spät arbeiteten sie hart, schliefen auf schlechtem Stroh und bekamen nie genug zu essen. Das Brot war schimmelig, der Kohl schlecht, und Fleisch gab es auch nicht an Weihnachten. Denn jedes Geldstück, das sie sparen konnte, trug die Frau in den Küchelberg und fragte den Vogel: «Wer hat am meisten Goldvöglein, wer hat am meisten gelbe Küchlein?» Und der Vogel antwortete fromm: «Die Frau im Küchelberg.»
Eines Tages klopfte es ans Tor des grossen Bauernhauses. Die Frau öffnete und draussen stand ein armseliges Männlein, es schwitzte und war ganz grau im Gesicht. «Gute Frau», sagte es, «es ist so ein heisser Tag, bitte gebt mir ein Glas Wasser, ich kann nicht mehr weiter.» Da lachte die Frau böse und sagte: «Wasser, sagt Ihr: wollt ich jedem Dahergelaufenen Wasser geben, kämt ich zu armen Tagen. Packt Euch, sonst hetz' ich die Hunde auf Euch.» Da ging das Männlein traurig fort.
Jetzt wohnte aber am Waldesrand ein gutes und frommes Mädchen. Es hatte keine Eltern mehr und
verdiente sich sein Brot mit Nähen für fremde Leute. An diesem Tage sass es vor seinem Häus­chen und verrichtete seine Arbeit, da sah es das Männlein heran wanken. Voll Mitleid ging es ins Haus, holte einen Krug Milch und ein Brot und rief: «Kommt herbei und setzt Euch in den Schatten, das wird Euch guttun!» Da setzte sich das Männlein, ass und trank und als es fertig war, sagte es: «Ihr seid ein gutes Mädchen, Gott soll es Euch tausendmal lohnen» und machte sich auf seinen Weg. Wie nun das Mädchen aber den Teller wegräumte, sah es, dass unten ein Goldstück klebte. Schnell eilte es dem Männchen nach, fand aber niemanden mehr weit und breit, es war, als ob die Erde das Männlein verschluckt hätte. Da dachte es bei sich: Ich will mir daraus ein frisches Brot und Milch kaufen, wenn das Männlein zurück kommt, werde ich die paar Pfennige wieder verdient haben und kann ihm sein Goldstück zurückgeben. So ging es also ins Dorf hinunter, kaufte sich Milch und Brot, und weil's grad noch eine arme Bettlerin sah, gab es ihr einen Taler. «Ich werd's schon dazuverdienen», dachte es mit­leidig und ging heim. Wie's daheim aber den Beutel öffnete, da waren zwei Goldstücke drin. Da staunte es sehr und dachte: «Wie merkwürdig das zugeht: Ich will morgen daraus Faden und Nadeln holen, damit ich besser arbeiten kann.» Am andern Tag machte es sich wieder auf ins Dorf, kaufte Nadeln und Faden, und weil da ein armes Kind über seinen Weg lief, schenkte es ihm eine Handvoll Pfennige. Wie's aber daheim ankam, da waren viele Goldstücke im Beutel. Da dankte es dem lieben Gott, lief nochmals ins Dorf und brachte gleich einer armen Familie einen Taler. Doch zu Hause, da waren es acht Goldstücke, und da wusste das Mädchen, dass das alte Männlein ein guter Zauberer gewesen sein müsse oder gar der liebe Gott selber. Es dankte dem Himmel für seine Güte, ging frohgemut schlafen und kaufte sich anderntags allerhand Dinge, die bitter nötig waren, vergass aber nicht, sein Glück mit jemandem zu teilen. Doch das Gold ver­mehrte sich fort und fort, und jedes Mal, wenn es etwas ausgab oder verschenkte, verdoppelten sich die Goldstücke. Es liess sein Häuslein für den Winter neu herrichten, kaufte sich warme Kleider, beschenkte überall notleidende Menschen, doch das Gold verdoppelte sich noch und noch. In diesem Winter gab es grosse Not überall. Und weil das Mädchen so freigebig war, strömten viele Arme herbei, und allen gab es zu essen, schenkte ihnen warme Kleider und tröstete sie mit guten Worten. Sein Reichtum nahm jedoch immer zu. Im Frühjahr liess es ein grosses schönes Haus bauen, nahm sich zwei Mägde und zwei Knechte, und zusammen speisten sie die vielen Armen, denn jetzt im Frühling herrschte überall grosse Not. Es schickte sogar zur Frau im Küchelberg und kaufte ihr für blankes Gold Getreide ab, um für die vielen Menschen Brot backen zu können.
Die Frau im Küchelberg staunte nicht wenig. Erst noch war das Mädchen so arm gewesen und sollte jetzt so reich sein, dass es seinen Reichtum verschwenden konnte? Da ging sie selber mit der Getreideladung hinunter und staunte nicht schlecht über das grosse feste Haus, die vielen Menschen, die in den grossen Räumen assen, das gute und reichliche Essen. Und sie fragte das Mädchen, wie das denn so zugehe, worauf ihr dieses freundlich die Geschichte vom Männlein erzählte. Da zitterte die Frau innerlich vor Wut, ging stracks heim und ver­kleidete sich als arme Bettlerin, ging wieder zum Mädchen und sprach: «Ich bin alt und krank. Zwölf Kinder muss ich ernähren, wir leiden grosse Not.» Das Mädchen aber gab ihr einen Beutel Goldes und sagte: «Da nimm gute Frau, es soll Dir Dein Unglück lindern.» Die Frau im Küchel­berg eilte heim, trat durch die sieben Türen hinein in den Berg, die Türen aber liess sie alle ein wenig offen, denn nur von aussen liessen sie sich aufschliessen. Sie fragte den bunten Vogel: «Wer hat am meisten Goldvöglein, wer hat am meisten gelbe Küchlein?» Da sagte der Vogel: «Das Mädchen im Walde.» Da warf die Frau voller Zorn den Goldbeutel nach dem Vogel, sodass sein rechter Flügel gebrochen herunterhing. «Du Mistvieh: Ich will Dich lehren,» schrie sie, eilte aus dem Berg, die Türen fielen krachend in die Schlösser.
Anderntags ritt sie tief in den Wald. Dort hauste ein grausamer Räuber. Ihn suchte sie auf und sprach: «Ich weiss, wo haufenweise Gold zu finden ist. Ich will Dir den Weg zeigen und wir werden die Beute teilen.» Der Räuber war es wohl zufrieden, und in einer mondlosen Nacht machten sie sich auf, stiegen in den Keller des festen Hauses und räumten die vielen tausend Goldbeutel aus, ohne dass auch nur ein Hund angeschlagen hätte. 24 Maultiere beluden sie damit, dann sagte die Frau vom Küchelberg: «Wir wollen das Haus anzünden und damit unsere Spuren verwischen.»
In Wirklichkeit wollte sie das Mädchen vernichten. Sie zündeten das Haus an und trieben die Maultiere fort, so schnell sie konnten. Im Küchelberg teilten sie die Beute. Sie war so gross, dass der Frau das Herz im Leibe lachte. Der Räuber ging damit zurück in seinen Wald, die Frau in die Kammer im Berge.
Unterdessen aber hatte das Mädchen das Feuer gerochen, schlug Lärm, und gemeinsam konnte alles Lebendige aus dem Haus gerettet werden. Das Haus selber aber brannte bis zu den Grundmauern nieder. Da dachte das Mädchen: «Ich war lange Zeit reich und konnte Gutes tun. Jetzt bin ich wieder arm, aber meine Hände können arbeiten.» Und so war es froh, dass alle heil waren und ging zufrieden schlafen. Wie es aber am Morgen aufwachte, da stand an der Brandstelle ein neues, noch viel schöneres Haus. Und wie es voll Erstaunen durch die Kammern ging, da sah es, dass alles aufs beste eingerichtet war, nichts fehlte, Truhen und Kästen waren gefüllt, im Keller aber reihte sich Goldbeutel an Goldbeutel. Da dankte es Gott ganz herzlich für dieses Wunder und freute sich sehr.
Die Frau im Küchelberg aber hatte unterdessen alle sieben Türen aufgeschlossen und alle Goldbeutel hin­eingetragen, das Gold gezählt und aufgeschichtet, die Goldstücke gestreichelt und gehätschelt
und voller Freude fragte sie den lahmen Vogel:«Wer hat am meisten Goldvöglein, wer hat am meisten gelbe Küchlein?» Da sagte der Vogel:«Das Mädchen im Walde.» Da zerbarst die Frau fast vor Wut und wollte den Vogel töten. Der jedoch entwich durch die offenen Türen und schlug mit dem ge­sunden Flügel jede ins Schloss. Da sass die Frau in ihrem Berg bei ihrem Golde und konnte nicht mehr hinaus und musste elendiglich verhungern und verdursten.
Nun lag der Hof verwaist und niemand wusste, was mit der Frau geschehen war. So ging das einige Zeit, da dachte das Mädchen: «Ich will den schönen Hof kaufen, das Getreide wird vielen armen Menschen Brot geben. Gedacht, so getan. Das Mädchen kaufte den Hof und machte daraus ein blühen­des Anwesen, wo die Menschen gerne arbeiteten, wo jeder Bedürftige Hilfe bekommen konnte, wo Freude und Freundlichkeit herrschte. Und wo sie jetzt noch herrscht, denn wenn sie nicht ge­storben sind, so leben sie heute noch. (Das war Fassung I.)

Fassung II folgt sogleich:
Eines Tages klopfte es ans Tor und wie das Mädchen öffnete, da stand draussen das alte Männlein. Da freute sich das Mädchen sehr, dankte ihm tausendmal für seine Güte und fragte: «Was kann ich für Dich tun, da Du mir so viel Gutes getan hast?» Da sagte das Männlein: «Ich möchte Dich gerne heiraten.» Nun war das Männlein aber alt und grau und verrunzelt und recht hässlich. Aber das Mädchen schaute es freundlich an und sagte: «Gerne will ich Dich heiraten, wenn Du es willst.» Kaum hatte es die Worte ausgesprochen, da gab es einen gewaltigen Krach und ohne Bewusstsein sank das Mädchen zu Boden. Und wie es wieder aufwachte, war da ein schöner Prinz und es lag in einem prächtigen Gemach. Der Königssohn aber sprach: «Ich bin das alte Männlein. Ein böser Zauberer hat mich in diese hässliche Gestalt verzaubert, weil ich eitel und geizig war. Nur selbstlose Güte könne mich erlösen, sagte er mir. Du hast es getan und sollst dafür meine Königin sein.»
So war es denn auch. Und wenn sie noch nicht gestorben sind, so leben sie heute noch.



[1] Im Südtirol gibt es einen Berg gleichen Namens, den Küchelberg oberhalb Merans. Es könnte deshalb sein, dass diese Volkserzählung aus dieser Region stammt.

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