Von Shraga Elam[i]
Im Rahmen einer sachlichen Debatte[ii]
um den St. Galler Polizeikommandant Paul Grüninger müssen einige Punkte ernsthaft
diskutiert werden. Eine der zentralen Fragen lautet, was Grüningers Motivation
war, jüdische Flüchtlinge illegal in die Schweiz zu lassen.
Früher wie auch heute noch kann Fluchthilfe negativ betrachtet werden, wenn
unlautere Motive eine Rolle spielen. Deshalb sollten fundierten Verdachtsmomenten
unbedingt nachgegangen werden.
Ab 1938 bis 1941 war es Hauptziel der NS-Politik, Juden zu vertreiben und ihre Vermögen zu beschlagnahmen. Die schweizerische Grenzschliessung für jüdische Flüchtlinge vom 18. August 1938 war demnach gegen diese NS-Interessen. In der Forschung ist es bekannt, dass Nazis diese Hürden beispielsweise mittels Agenten zu umgehen versuchten. Auf diesem Hintergrund müssen die zahlreichen Hinweise auf enge Verbindungen zwischen Grüninger und NS-Offizieren geprüft werden, die er selber als Freunde bezeichnete.
Von grosser Bedeutung sind die Beziehungen zwischen Grüninger und zwei befreundeten NS-Offizieren. Es sind dies der Zollfahndungshauptmann und Spionage-Offizier Karl Süss und der Gestapo-Offizier Josef Schreieder, deren Aufgabe es war, u.a. die Vertreibung von Juden zu forcieren. Süss verfolgte als Zollfahnder deutsche und jüdische Vermögen in der Schweiz. Gemäss dem Historiker Peter Kamber figurierte Süss auf einer Schweizer Liste mit deutschen Zollfahndern, die in der Schweiz tätig waren. Süss, der berufshalber oft in der Schweiz weilte, bekam 1937 Kenntnis von besagter Liste, und zwar durch einen befreundeten Schweizer Polizeioffizier[iii]. Der Verdacht liegt sehr nahe, wer dieser Freund war. Derselbe Süss offerierte Grüninger nach dessen Absetzung 1939 eine Stelle bei der Polizei in Deutschland. Dieses Stelleangebot wird zwar schon in der Grüninger-Biographie von Stefan Keller erwähnt. Niemand aber kann bis jetzt überzeugend die Frage beantworten, wie es dazu kam, dass Karl Süss sich selber exponierte und das Risiko einging, eine solche Offerte ausgerechnet einem ungehorsamen Schweizer Polizeioffizier und vermeintlichen Judenretter zu machen. Denn die Aktivität Grüningers war ja auch in Deutschland bekannt.
Kamber versucht, die Angelegenheit zu verharmlosen: Süss habe dem deutschen Widerstand angehört Wenn letzteres zuträfe, hätte Süss ja aber noch vorsichtiger sein müssen. Denn es wurden auch bei ihm regelmässig Gesinnungskontrollen durchgeführt. 1941 half Süss Grüninger bei seinen Bemühungen um die Schweizer Vertreter-Stelle zweier deutschen Firmen.
Beim anderen deutschen Freund Grüningers handelt es sich um Josef Schreieder. Schreieder war laut den Unterlagen des Berlin Document Center[iv] bereits am 1. Mai 1933 der Allgemeinen SS beigetreten[v]
1933-1935 diente er als Abwehrexperte der Münchner Gestapo. Dann wurde er Inspektor bei der Grenzpolizei nach Lindau versetzt, und 1938, nach dem „Anschluss“ Österreichs, war er bis 1940 als Grenzkommissär in Bregenz tätig. Ab 1940 fungierte er als Kriminalrat bei der Sicherheitspolizei in Holland, und anschliessend, bis 1945, war er Chef der dortigen Spionageabwehr und damit zuständig für die Bekämpfung des holländischen Widerstands. Nach dem Krieg, bis 20. April 1949, sass Schreieder, mit einem kurzen Unterbruch, in Gefangenschaft[vi]. «Ein niederländisches Kriegsgericht sprach ihn dann aber überraschenderweise von den gegen ihn erhobenen Mord-Vorwürfen frei[vii].» Denn Schreieder gab seine Mitwirkung an der Verbringung holländischer Widerstandskämpfer ins KZ zu.
Schreieder schrieb über diese Deportation scheinheilig an seinen Anwalt. Denn es ist unwahrscheinlich, dass er als Gestapo-Offizier nicht wusste, dass Konzentrationslager keine harmlosen Verwahrungsanstalten waren:
«b) Grausamkeiten und Morde in den KZ‘s
Dass ich hievon nichts gewusst habe beweise ich durch meinen Antrag, die Mitglieder des Nationalkomitees und Angehörige des Vorrinkkreises wegen ihrer wirtschaftlichen und politischen Bedeutung für das niederländische Volk nicht vor das Kriegsgericht zu stellen, sondern in einem deutschen Lager zu verwahren. Ich stellte mir hiebei eine Wiedereinsetzung dieser Männer in ihren politischen und wirtschaftlichen führenden Stellen in Holland zum gegebenen Zeitpunkt vor. Hätte ich von den Grausamkeiten und Morden in den Kz‘s gewusst, so würde ich niemals durch den Vorschlag der Verwahrung in einem Lager in Deutschland das Leben dieser Männer riskiert oder sie zu Zeugen dieser Grausamkeiten gemacht haben.[viii]»
Dank der deutschen Historikerin Susanne Meinl
stiess der Autor auf eine beschönigende schriftliche Aussage Grüningers
zugunsten Schreieders bei dessen Entnazifizierungsverfahren
1948 in
München[ix].
Schon in einem seiner eigenen Militärverfahren (1943) beschrieb Grüninger
seinen deutschen Gestapo-Freund Schreieder weichspülend und weisswaschend: «Schreieder
aus Bregenz ist ein alter Bekannter von mir. Er war Grenzkommissär in Bregenz,
ein Menschenfreund, der z.B. bestrebt war, die Judenverfolgung zu mildern.[x]»
In der Erklärung vom 28. Mai 1948 an die Rechtsanwälte Schreieders war Grüninger ausführlicher
und beschrieb ziemlich abenteuerlich eine vermeintliche Judenhilfe seitens des
Gestapo-Offiziers, die nicht einmal Schreieder selber behauptete geleistet zu
haben.
Grüninger:
«Herr Grenzkommissär Joseph Schreieder nahm regen
Anteil am Schicksal dieser [jüdischen -se] Verfolgten und verhalf Hunderten zum unbehinderten Übertritt in die Schweiz» [Unterstreichung im Original].
Dass Schreieder Juden den Übertritt in die
Schweiz ermöglichte, ist sehr plausibel. Dass diese Handlung aber als
Anteilnahme an ihrem Schicksal zu werten sei, ist absolut zu bezweifeln. Es war
ja, wie schon erwähnt, das Ziel der NS-Politik ab 1938-1941, Juden zu
vertreiben. Das wusste bestimmt auch Grüninger. Seine stark beschönigende
Beschreibung, um einen Naziverbrecher reinzuwaschen, spricht nicht gerade für
den Schweizer „Judenretter“.
Weiter erklärte Grüninger:
«Im Herbst 1938 erfuhr ich, dass jüdischen Flüchtlingen
in Bregenz die Unterkunft sowohl bei Privaten als auch in Gasthäusern
verweigert wurde, so dass diese gezwungen waren, bei jeder Witterung im Freien
zu weilen und so dem Gespött des Publikums ausgesetzt waren.
Auf meine diesbezüglichen Vorstellungen hin verfügte Herr Grenzkommissär
Schreieder unverzüglich die Unter-BRINGUNG DIESER armen Leute im Gasthause „Zehbäck“
an der Kirchgasse daselbst» [Unterstreichung und Grossschreibung im
Original].
Für Grüningers obige Geschichte gibt es keinen Beleg. Und es ist nicht denkbar,
dass Stefan Keller bzw. andere Forscher solche Hilfsaktionen nicht erwähnen
würden. Es müsste ja Aussagen von jüdischen Flüchtlingen gegeben haben, die
solche vermeintlichen Zustände erlebt und eventuell auch um die angebliche Rolle
Schreieders gewusst hätten.
Die Wahrscheinlichkeit ist sehr gering, dass das weiter unten folgende
Grüninger-Statement in der gleichen Aussage stimmt. Es passt einfach nicht zur
Schreieders Biographie als Gestapo-Offizier und zu seiner Beschreibung in der
Studie der Historiker Susanne Meinl und Joachim Schröder[xi]:
«Ich kann, sehr geehrte Herren, mit gutem Gewissen bezeugen, dass Herr Grenzkommissär Joseph Schreieder von den Judenverfolgungen innerlich sehr empört war und diesbezüglichen Befehle nach Möglichkeit ignorierte» [Unterstreichung im Original].
In derselben Studie steht über den „Menschenfreund“ Schreieder unter anderem: ««1945 bezeichnete ihn [Schreieder -se] sein alliierter
Vernehmungsoffizier noch als „One of
the slimiest pieces of work yet
encountered by this Interrogator. He is inordinately clever at dodging answers without giving the
impression of doing so.»
Weiter schrieb der Vernehmungsoffizier: « Due to his long experience both as an Interrogator
himself and in handling other Interrogaters he is much too clever to make any
slipe or contradictory statements.
[…]
He is getting away with a number of half truths. It is considered that he is extraordinarily intelligent with an amazing memory, but utterly ruthless and prepared to stop at nothing to gain his own ends [xii].»
Nach seiner Suspendierung
unternahm Grüninger Vieles, um das Flüchtlingsrettungsnetzwerk der SP zu sabotieren.
So kam sein Anwalt ausgerechnet aus den Reihen des jüdisch- und
flüchtlingsfeindlichen Schweizerischen Vaterländischen Verbands. Das
passt doch so gar nicht zu einer Person, welche von der Judenverfolgung dermassen
bewegt gewesen sein soll. Grüngingers Gefühl, von der SP im Stich gelassen
worden zu sei, ist nur sehr beschränkt verständlich. Denn es ist klar, dass die
SP nicht öffentlich zu ihm stehen konnte. Und sein Verhalten machte es für die
Sozialdemokraten noch schwieriger, ihn zu unterstützen. Im Fall von Grüningers
Untergebenem, Christian Dutler, der ebenfalls wegen Beihilfe zur illegalen
Einwanderung von jüdischen Flüchtlingen vor Gericht gestanden war, half der SP-
Zentralsekretär, Werner Stocker, heimlich,
und es gelang ihm, den Genossen Dutler zu beruhigen, wofür Stocker parteiintern
allerdings gerügt wurde[xiii].
Der 1964 verstorbene Stocker, ein echter langjähriger und sehr engagierter Judenretter,
der dabei auch nicht vor illegalen Handlungen zurückschreckte, bleibt bis heute
ohne adäquate Anerkennung seiner grossartigen Leistungen. Dies, obwohl der Präsident
des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds, Georges Brunschvig, damals
an Stockers Witwe schrieb:
«Sehr geehrte Frau Stocker
der jähe Hinschied Ihres verehrten Gatten erfüllt auch uns mit Schmerz und Trauer. Wir wissen aus eigenem Erleben, welch einzigartigen Beitrag an die geistige Landesverteidigung der Schweiz der Verstorbene in den finsteren Jahren der nazistischen Bedrohung geleistet hat. Herr Werner Stocker ist überzeugungsstark und weitblickend den Feinden der Demokratie wie den Anpassern und Leisetretern von Anfang an unbeirrbar und kompromißlos entgegengetreten. Wir wissen aber auch, mit welcher Leidenschaft er sich stets für die Hochhaltung der schweizerischen Asylrechtstradition eingesetzt hat und vielen der Bedrohten und Verfolgten er Hilfe und Rettung brachte, wobei er große persönliche Risiken freudig auf sich nahm, einzig dem Gewissen und nicht engherzigen Vorschriften folgend. Wir werden dieses edlen Menschen stets in größter Verehrung und tiefer Dankbarkeit gedenken. Wir bitten Sie, unser herzliches Mit empfinden auch Ihren Kindern und weiteren Angehörigen zu übermitteln.[xiv]»
Das Versprechen, Stocker zu ehren, wurde bis heute leider nicht eingelöst. Und kaum eine Person – auch in den Reihen der SP – weiss, wer Stocker war.
[i] Shraga Elam ist schweizerisch-israelischer Journalist und Buchautor.
Er wohnt in Zürich.
[ii] Schon 1999 verlangte der
heutige Geschichtsprofessor Thomas Maissen in der NZZ:
«Angesichts der widersprüchlichen Überlieferung
einerseits, andererseits der politischen Bedeutung Grüningers gerade heutzutage
sind weitere Quellensuche und eine rationale, von persönlichen Animositäten
losgelöste Diskussion angebracht. » 22. Januar 1999 Der Nazi-Vorwurf an
Paul Grüninger Tollkühne
These - nötige Diskussion.
[iii] „Zur Verteidigung von Polizeihauptmann Paul Grüninger (1891-1972), Flüchtlingsretter 1938/39, Neue Akten aus dem Schweizerischen Bundesarchiv oder: Freundlicher Versuch, Shraga Elam davon zu überzeugen, dass er Paul Grüninger zu Unrecht unehrenhafte Motive unterstellt hat", Peter Kamber, 26. Februar 2015, S. 78 ff.
[iv] Bundesarchiv Berlin, SSO und Rasse- und Siedlungshauptamtsakten Joseph Schreieder (früherer Bestand BDC).
[v] Susanna Meinl/Joachim Schröder: „Einstellung zum demokratischen Staat: Bedenkenfrei“ Zur Frühgeschichte des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz (1949-1965), Bündnis 90 / Die Grünen im Bayerischen Landtag (Hrsg.) München, 2013, S. 89
[vi] Quelle: Bayerisches Staatsarchiv München, Spruchkammerakte Joseph Schreieder, Spk K 1699.
[vii] Meinl /Schröder, S. 43
[viii] Bayerisches Staatsarchiv München, Spruchkammerakte Joseph Schreieder, Spk K 1699. Schreiben Schreieders an Rechtsanwalt Dr. Bandorf, 18.5.1948. In Meinl/Schröder, S. 97
[ix] Bayerisches Staatsarchiv München, Spruchkammerakte Joseph Schreieder, Spk K 1699
[x] Einvernahme Basel, den 21. Juli 1943 Bundesarchiv Bern E4320B#1971/78#109*
[xi] Susanna Meinl/Joachim Schröder: „Einstellung zum demokratischen Staat: Bedenkenfrei“ Zur Frühgeschichte des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz (1949-1965), Bündnis 90 / Die Grünen im Bayerischen Landtag (Hrsg.) München, 2013
[xii] NARA, RG 263, Schreieder Name File. Robinson Opt., Army Interrogation Pool Detachment, Interrogation Report, 21.6.1945. Meinl /Schröder, S. 67
[xiii] Brief von Hans Oprecht an Werner Stocker, 15. Oktober 1940. Aus dem Nachlass Stockers im Besitz des Autors.
[xiv] Werner Stocker. Gedenkschrift, hrsg. vom Verband des Personals öffentlicher Dienste, VPOD, Zürich: VPOD, 1964, S. 40
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