Saturday, August 15, 2009

Himmlers Schweizer Freund


Berner Zeitung BZ zeitpunkt
LANDARZT Fritz Thönen, ZWEISIMMEN
Himmlers Berner Vertrauter
Fritz Thönen, imposanter Arzt aus Zweisimmen, hatte Kontakte zur Führung Nazi- deutschlands. Erstmals ausgewertete Dokumente zeigen nun: Er traf gar SS-Reichsführer Heinrich Himmler und verhandelte mit ihm über den Freikauf von Juden. Wer sich noch an Thönen erinnert, hält es aber für zu simpel, ihn nur in die Naziecke zu stellen.

Dr. Fritz Thönen*


In einem Brief aus dem Kriegsjahr 1943 fand der Zweisimmner Landarzt und Bern-Burger Fritz Thönen lobende Worte für eine der obersten Führungsfiguren der Nationalsozialisten: «Mein Verhältnis zum Reichsführer SS Himmler beruht auf absoluter Anständigkeit und gegenseitigem Vertrauen. Der Mann ist ganz anders, als er immer wieder geschildert wird.» Heinrich Himmler, Führer der Nazikampforganisation «Sturm-Staffel» (SS), war Herr über den Vernichtungsapparat, dem Millionen Juden zum Opfer fielen.


Nazifreund und Judenretter
Dass der Dorfarzt Sympathien für die Nazis hegte, daran erinnern sich ältere Zweisimmner bis heute. Und zwar so gut, dass sie auf Anfrage darüber ausführlich und kritisch oder lieber überhaupt nicht reden wollen. Das erlebte diese Zeitung bei ihren ausführlichen Recherchen, die nun erstmals ein umfassenderes Bild von Thönens Naziverbindungen liefern. Ein neu aufgefundener Brief von 1956 (siehe Kasten) sowie Dokumente im Schweizer Bundesarchiv und im deutschen Auswärtigen Amt belegen, dass der 1962 verstorbene Thönen als einer von wenigen Schweizern mit Himmler und anderen Nazi-Grössen persönlich befreundet war und mit ihnen gar über den Freikauf von Juden verhandelte.
Thönen wurde 1889 in Wimmis geboren, ging in Burgdorf aufs Gymnasium und studierte danach Medizin in Bern, Zürich und München. 1918 eröffnete der Spezialist für innere Krankheiten eine Praxis in Zweisimmen, wo er auch als Spitalarzt tätig war. Einige seiner deutschen Studienfreunde wurden Nazis und schickten laut Thönens Akten im Bundesarchiv «erholungsbedürftige Kameraden» zu ihm in die Schweiz, da sie wussten, dass er Sympathie für ihre Sache hegte.
Im ETH-Archiv für Zeitgeschichte befinden sich Thönens Briefe an Rudolf Grob, Pfarrer und Chef der Epilepsie-Klinik in Zürich. Thönen legt darin seine anti-kommunistische Haltung offen und einen festen Glauben, dass nur die «tapferen» deutschen Nationalsozialisten auch die Schweiz vor der «roten Gefahr» des Kommunismus bewahren könnten.
Erstaunlicherweise setzte sich Thönen bei seinen Nazifreunden dennoch für die Freilassung von Juden ein. Ein Judenfreund war er deshalb nicht. Noch 1949 verteidigte er vor einem französischen Gericht den mit ihm befreundeten SS-General Carl Oberg, welcher wegen seiner Rolle bei der Deportation von 75000 Juden in die Vernichtungslager «Schlächter von Paris» genannt wurde.
Schillernde Figur
Der Nazifreund und Judenretter Thönen war eine schillernde Figur. Ein vollständiges Bild dieses radikalen Eidgenossen lässt sich aus den lückenhaften Akten und Zeugenaussagen kaum zeichnen. Neben dem Glauben an die Rassentheorie und andere menschenverachtende Haltungen, die aus den Akten hervorgehen, ist bei Thönen auch eine ausgeprägte soziale Ader zu erkennen.
Ein pensionierter Lehrer, der nach Kriegsende in Boltigen unterrichtete und Thönen als Schularzt erlebte, erinnert sich an eine «imposante Persönlichkeit». Er beschreibt ihn als «Rübezahl»: breitschultrig und schalkhaft. «Er mochte es, wenn man ihn unterschätzte.» Thönens diagnostische Fähigkeiten seien weitherum bekannt gewesen. Der Lehrer erinnert sich an ein Handicap des Arztes: Er habe Blut nicht sehen können.
Thönen habe eine «eigenwillige Grosszügigkeit» ausgezeichnet. Mit Patienten, die an besonderen Krankheiten litten, sei er, auch aus medizinischem Interesse, zu Spezialisten gereist und habe dann nie ein Honorar verlangt. «Er tat viel Gutes, wollte aber auch seinen Spass haben», erinnert sich der Lehrer. Die Karambolagen des schlechten Autofahrers Thönen werden unter älteren Zweisimmnern noch heute herumgeboten.
Der Berner Musiker Jakob Stämpfli, 75, der als Bub öfter im Zweisimmner Kinderheim «Güetli» weilte, beschreibt Thönen als «wortkargen und strengen Mann». Er vermutet, dass der Arzt bei ihm ein inexistentes Leiden diagnostiziert habe, um das Kinderheim besser auszulasten. Stämpfli erinnert sich, dass im Kinderheim von der Pro Juventute geschickte Kinder aus ärmeren Verhältnissen als zweitklassig behandelt wurden. Ganz anders der Nachwuchs reicher Eltern wie etwa der Enkel des italienischen Diktators Mussolini, der wohl durch Thönens Kontakte ins Kinderheim gekommen sei. Wie andere Zeitzeugen sagt Stämpfli, Thönen sei als Nazigauleiter von Bern im Gespräch gewesen, was sich in den Akten nicht erhärten lässt.
Geistesverwandter Musy
Thönen begann sein Kontaktnetz zu den Spitzen der Nazis vor Hitlers Machtergreifung im Januar 1933 zu knüpfen. Gemäss seinen eigenen Aussagen in Unterlagen der Bundesanwaltschaft floh um 1925 Ernst Röhm, der Führer der NS-Kampforganisation «Sturmabteilung» (SA), aus Deutschland und versteckte sich bei ihm in Zweisimmen. Durch ihn lernte der Berner weitere prominente Nazis kennen. Am 30.Dezember 1930 erwiesen Röhm und Himmler gemäss Einvernahmeprotokollen der Bundesanwaltschaft dem Zweisimmner Arzt sogar die Ehre, mit ihm im Zürcher Nobelhotel Baur au Lac zu speisen.
Bei Kriegsbeginn lernte Thönen im Sommer 1939 in Bad Lenk den 1934 abgetretenen Freiburger CVP-Bundesrat Jean-Marie Musy (1876–1952) kennen. Auch dieser hegte öffentlich Sympathien für die Nazis. Bei diesem Lenker Treffen, schrieb Thönen im Brief von 1956, habe man die «Judenfrage» besprochen, welche Musy beschäftigt habe. Als dieser vernahm, dass Thönen Himmler kenne, soll er ihn um einen Kontakt zum SS-Chef gebeten haben.
Lukrativer «Judenhandel»
Thönen und Musy sind in einem Zusammenhang zu sehen, der heute unter Forschern unbestritten ist: In den 1930er-Jahren war das Hauptziel der SS die Vertreibung der Juden und noch nicht deren Vernichtung. Für dieses Projekt brauchte sie auch die Hilfe wohlgesinnter Ausländer. «Helfer» wie Musy konnten Geld verdienen mit einem «Judenhandel», wie die SS dieses Geschäft nannte. 1944 vermittelte Musy im Auftrag einer jüdisch-orthodoxen Organisation in der Schweiz den Freikauf von 1200 ungarischen Juden aus dem Konzentrationslager Theresienstadt. Dafür verhandelte Musy mit Himmler und dessen Geheimdienstchef Walter Schellenberg. Gegen Bezahlung von Lösegeldern liessen die Nazis die Juden in die Schweiz ausreisen. Die jüdische Organisation bezahlte überdies Musy für dessen Dienste.
Weder Musy noch Thönen können indes als klassische Judenretter bezeichnet werden. Thönen gab laut den Akten des erwähnten Oberg-Prozesses von 1949 in seiner Zeugenaussage selber zu, dass er «die Juden nicht besonders liebe». Hinzu kommt, dass sowohl der Zweisimmner Arzt wie auch der alt Bundesrat 1940 der bald darauf verbotenen pronazistischen Nationalen Bewegung der Schweiz (NBS) angehörten. Dies zeigen NBS-Akten der Bundesanwaltschaft.
Empfang bei Himmler
Obwohl Musys Aktion von 1944 von der Geschichtsforschung durchleuchtet wurde, war bisher unbekannt, dass Fritz Thönen dabei hinter den Kulissen agierte und im Voraus bei den Nazispitzen das Terrain ebnete. Musy sprach im Januar 1941 selber bei Himmler in Berlin vor, wurde gemäss Thönen aber schroff abgewiesen.
Im Brief von 1956 berichtete Thönen, wie er 1942 – im Rahmen der zweiten Schweizer Ärztemission an die Ostfront in Russland – kurz vor Ostern einen Abstecher nach Berlin machte. Dort traf er im Führerhauptquartier Himmler und dessen Stellvertreter Reinhard Heydrich. Wichtiges Thema der zweitägigen Zusammenkunft war offenbar ein grosser Plan für die Auswanderung von Juden aus dem deutschen Reich.
Kurz nach der Wannsee-Konferenz vom Januar 1942 also, an welcher die «Endlösung der Judenfrage» – die industrielle Vernichtung der Juden – beschlossen worden war, traf sich die SS-Spitze mit dem Berner Sympathisanten, um die Emigration von Millionen von Juden zu diskutieren.
Dass Thönen sein Treffen mit Himmler nicht erfunden hat, bezeugen Dokumente im Bundesarchiv und ein falsch geschriebener Eintrag in Himmlers Dienstkalender, der in Buchform publiziert ist. Am 2. und 3.April 1942 ist dort der Besuch eines «Dr. Thoerner» vermerkt.
Eine Figur in Himmlers Spiel
Wie kamen die SS-Grössen dazu, 1942 einen Berner Landarzt extra nach Berlin zu holen? Es ging offenbar um ein besonders wichtiges «Judenprojekt». Thönen könnte eine Rolle in einem teuflischen Spiel Himmlers zugedacht worden sein. Viele Historiker sind der Meinung, dass die SS-Führung nach der verlorenen Schlacht bei Stalingrad von 1943 einen Sonderfrieden mit den Alliierten anstrebte. Um diese Gespräche voranzutreiben, wurden Juden als Druckmittel eingesetzt. Die SS drohte den Alliierten, die Juden mit industriellen Methoden auszulöschen, wenn keine Verhandlungen und Lösegeldzahlungen erfolgten.
Um zu signalisieren, dass die Erpressung wie auch das Versprechen des Freikaufs ernst gemeint waren, wurde nach Thönens Besuch die Freilassung einiger Juden beschlossen. Thönen behauptete später – am Prozess gegen Carl Oberg und im Brief von 1956 – auf wenig glaubwürdige Weise, er habe sich bei Himmler aus humanitären Beweggründen für Juden eingesetzt und die Interessen der Schweiz verteidigt.
Himmlers Sonderfrieden
Die Theorie, dass die SS diesen Erpressungsplan noch vor Stalingrad 1943 einsetzte, wird durch Bundesarchivsakten des Schweizer Geheimdienstmanns und früheren Berliner NZZ-Korrespondenten Johann Meyer bekräftigt. Dieser berichtete Ende 1942: «Himmler sei damit beschäftigt, Anschluss an die führenden Oppositionellen in Deutschland und im Ausland zu suchen. Himmler sei zu diesem Zwecke in Lissabon und in der Schweiz (Luzern) gewesen. In Luzern habe er einen gewissen Erfolg gehabt. Himmler scheine die Absicht zu haben, im gekommenen Augenblick Hitler zu beseitigen, um das Reich in ordentliche Verhältnisse zurückzuführen, mit Hilfe einer neuen und umgebauten SS.» Meyer erwähnt auch die «heftige Reaktion von England und USA auf den sog. Judenhandel».
Thönen war als Vermittler für Himmler besonders gut geeignet, weil der Zweisimmner Arzt nicht nur dessen Vertrauen genoss, sondern auch über langjährige gute Beziehungen zum britischen Minister Leopold Amery verfügte, wie dies aus seinem Briefwechsel mit dem Zürcher Pfarrer Rudolf Grob hervorgeht.
1939 setzte sich Thönen bei Amery für die Freilassung zweier deutscher Bergsteiger ein, die zusammen mit Pfarrer Grobs Bruder auf einer Himalaja-Expedition waren und in englische Gefangenschaft gerieten. Thönens Magd berichtete gar über einen Besuch des britischen Ministers in Zweisimmen.
Unter Dauerbeobachtung
Für seine Haltung zahlte Thönen in der fast geschlossen antinazistisch gesinnten Schweiz einen Preis. Sein Dossier bei der Bundesanwaltschaft zeigt, dass er unter Dauerbeobachtung stand. Sein Telefon wurde abgehört. Regelmässig wurde er von der Schweizer Militärjustiz einvernommen. Zu einem Prozess wegen Hochverrats kam es aber nicht, auch wenn es im Bundesarchiv Hinweise gibt, dass der Arzt antischweizerische Informationen an die Nazis geliefert hatte.
Himmler brachte Thönen sein Mitgefühl in einem Brief (siehe Nachdruck vordere Seite) zum Ausdruck, in dem er ihm am 24.Juli 1940 schrieb: «Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie es bei den Schwierigkeiten, die Ihnen die ‹freundlichen› Schweizer Volksgenossen gemacht haben, nicht schön und leicht gehabt haben.» Thönen hatte offenbar Angst, den Brief des SS-Chefs bei sich aufzubewahren, und übergab ihn der deutschen Botschaft, weshalb sich dieser heute im Archiv des deutschen Auswärtigen Amts befindet.
Wessel-Lied in Zweisimmen
Besorgte Bürger störten sich an Auftritten des mit Nazispitzen verkehrende Thönen. Das Gerücht machte 1938 die Runde, dass wegen Thönen in der Kinderabteilung des Bezirksspitals Zweisimmen das nazistische Horst-Wessel-Lied gesungen werde. Der Berner Professor Ludwig musste sich aber wegen der Verbreitung dieser Behauptung bei Thönen entschuldigen. Die bei Thönen 1938/1939 als Köchin beschäftigte Kathrin Sturzenegger sagte laut Akten der Bundesanwaltschaft aus, dass der Arzt nationalsozialistische Lieder gesungen habe. So das «Horst-Wessel»-Lied oder «Deutschland über alles». Sturzenegger behauptete überdies, an den Loggia-Wänden hätten Porträts von Hitler, Himmler und Röhm gehangen.
Thönens Wirtshausstreit
Am 20.November 1939 wurde Thönen von einem Militärgericht der öffentlichen Beschimpfung für schuldig erklärt, begangen am Freitag, 27.Oktober 1939, im Gasthaus «Bären» in Zweisimmen. Im Restaurant entfachte er eine heftige Diskussion, nachdem ein Gast Hitler die Hauptschuld am Kriegsausbruch gegeben hatte. Der Arzt griff nicht nur den Gast, sondern auch drei anwesende Soldaten im Aktivdienst an, die der gleichen Meinung waren und für Hitler nichts übrig hatten.
Der aufgebrachte Thönen beschimpfte die Soldaten, sie seien «schöne Vaterlandsverteidiger» und doch nur «Vaterlandsvertäfeler». Dafür bekam er drei Tage scharfen Arrest.
«Arzt kam vor Nazifreund»
Heute sagt der Boltiger Lehrer, die politische Ausrichtung Thönens sei ihm nach dem Krieg nicht weiter aufgefallen. Der Arzt sei eine «unabhängige Figur» gewesen. Der 1958 geborene Matthias Kurt, Touristiker an der Lenk und parteiloser Grossrat, weiss aus Erzählungen seiner Grosseltern, dass Thönen polarisierte, Freundschaften aber dennoch bewahrte, weil er Politisches und Privates trennen konnte.
Für Kurt ist rückblickend klar: «Thönen war als Arzt ein Original und Spitzenklasse.» Was man von Thönen in Zweisimmen bis heute halte, bringt Kurt auf eine kurze Formel: «Der Arzt kam vor dem Nazifreund.»

Shraga Elam
Der Autor: Shraga Elam (zeitpunkt@bernerzeitung.ch) ist israelischer Journalist in Zürich.
Mitarbeit: Stefan von Bergen, «Zeitpunkt»-Leiter.

*Das Bild von Fritz Thönen stammt aus Frédéric Gonseths Dokumentarfilm «Mission en enfer» (Mission des Grauens) über die Schweizer Ärztemission an der Ostfront, (www.artfilm.ch/missionenenfer.php). Als DVD erhältlich: www.fgprod.ch.

THÖNENS BRIEF von 1956
Neues Schlüsseldokument
Ein Auslöser für obigen Text ist ein neu aufgetauchter Brief Fritz Thönens vom 17.November 1956, der in seinen Akten im Bundesarchiv fehlt. Der Zweisimmner Arzt beschreibt darin seine Kooperation mit dem nazifreundlichen alt Bundesrat Jean-Marie Musy und sein brisantes Treffen mit SS-Führer Heinrich Himmler. Mit der Formel «wir halfen, wo wir nur konnten», versucht Thönen sich selbst und Musy im Schreiben nachträglich als Judenretter mit humanitären Motiven darzustellen.
Thönen richtete seinen Brief an einen namentlich nicht genannten «Herrn Professor», der einen Gedenkband für den 1952 gestorbenen Musy plante, in dem offenbar auch ein Beitrag Thönens vorgesehen war. Eine Kopie des Briefs gelangte zu einer jüdischen Familie. Offenbar um zu belegen, dass Thönen kein Nazi, sondern bloss «deutschfreundlich» gewesen sei.
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