Berner
Zeitung BZ zeitpunkt
LANDARZT
Fritz Thönen, ZWEISIMMEN
Himmlers
Berner Vertrauter
Fritz
Thönen, imposanter Arzt aus Zweisimmen, hatte Kontakte zur Führung Nazi-
deutschlands. Erstmals ausgewertete Dokumente zeigen nun: Er traf gar
SS-Reichsführer Heinrich Himmler und verhandelte mit ihm über den Freikauf von
Juden. Wer sich noch an Thönen erinnert, hält es aber für zu simpel, ihn nur in die
Naziecke zu stellen.
Dr. Fritz Thönen* |
In einem
Brief aus dem Kriegsjahr 1943 fand der Zweisimmner Landarzt und Bern-Burger
Fritz Thönen lobende Worte für eine der obersten Führungsfiguren der
Nationalsozialisten: «Mein Verhältnis zum Reichsführer SS Himmler beruht auf
absoluter Anständigkeit und gegenseitigem Vertrauen. Der Mann ist ganz anders, als
er immer wieder geschildert wird.» Heinrich Himmler, Führer der Nazikampforganisation
«Sturm-Staffel» (SS), war Herr über den Vernichtungsapparat, dem Millionen
Juden zum Opfer fielen.
Nazifreund
und Judenretter
Dass der
Dorfarzt Sympathien für die Nazis hegte, daran erinnern sich ältere Zweisimmner
bis heute. Und zwar so gut, dass sie auf Anfrage darüber ausführlich und
kritisch oder lieber überhaupt nicht reden wollen. Das erlebte diese Zeitung
bei ihren ausführlichen Recherchen, die nun erstmals ein umfassenderes Bild von
Thönens Naziverbindungen liefern. Ein neu aufgefundener Brief von 1956 (siehe
Kasten) sowie Dokumente im Schweizer Bundesarchiv und im deutschen Auswärtigen
Amt belegen, dass der 1962 verstorbene Thönen als einer von wenigen Schweizern
mit Himmler und anderen Nazi-Grössen persönlich befreundet war und mit ihnen
gar über den Freikauf von Juden verhandelte.
Thönen wurde
1889 in Wimmis geboren, ging in Burgdorf aufs Gymnasium und studierte danach
Medizin in Bern, Zürich und München. 1918 eröffnete der Spezialist für innere
Krankheiten eine Praxis in Zweisimmen, wo er auch als Spitalarzt tätig war.
Einige seiner deutschen Studienfreunde wurden Nazis und schickten laut Thönens
Akten im Bundesarchiv «erholungsbedürftige Kameraden» zu ihm in die Schweiz, da
sie wussten, dass er Sympathie für ihre Sache hegte.
Im
ETH-Archiv für Zeitgeschichte befinden sich Thönens Briefe an Rudolf Grob,
Pfarrer und Chef der Epilepsie-Klinik in Zürich. Thönen legt darin seine
anti-kommunistische Haltung offen und einen festen Glauben, dass nur die
«tapferen» deutschen Nationalsozialisten auch die Schweiz vor der «roten
Gefahr» des Kommunismus bewahren könnten.
Erstaunlicherweise
setzte sich Thönen bei seinen Nazifreunden dennoch für die Freilassung von
Juden ein. Ein Judenfreund war er deshalb nicht. Noch 1949 verteidigte er vor
einem französischen Gericht den mit ihm befreundeten SS-General Carl Oberg,
welcher wegen seiner Rolle bei der Deportation von 75000 Juden in die
Vernichtungslager «Schlächter von Paris» genannt wurde.
Schillernde
Figur
Der
Nazifreund und Judenretter Thönen war eine schillernde Figur. Ein vollständiges
Bild dieses radikalen Eidgenossen lässt sich aus den lückenhaften Akten und
Zeugenaussagen kaum zeichnen. Neben dem Glauben an die Rassentheorie und andere
menschenverachtende Haltungen, die aus den Akten hervorgehen, ist bei Thönen
auch eine ausgeprägte soziale Ader zu erkennen.
Ein
pensionierter Lehrer, der nach Kriegsende in Boltigen unterrichtete und Thönen
als Schularzt erlebte, erinnert sich an eine «imposante Persönlichkeit». Er
beschreibt ihn als «Rübezahl»: breitschultrig und schalkhaft. «Er mochte es,
wenn man ihn unterschätzte.» Thönens diagnostische Fähigkeiten seien weitherum
bekannt gewesen. Der Lehrer erinnert sich an ein Handicap des Arztes: Er habe
Blut nicht sehen können.
Thönen habe
eine «eigenwillige Grosszügigkeit» ausgezeichnet. Mit Patienten, die an
besonderen Krankheiten litten, sei er, auch aus medizinischem Interesse, zu
Spezialisten gereist und habe dann nie ein Honorar verlangt. «Er tat viel
Gutes, wollte aber auch seinen Spass haben», erinnert sich der Lehrer. Die
Karambolagen des schlechten Autofahrers Thönen werden unter älteren
Zweisimmnern noch heute herumgeboten.
Der Berner
Musiker Jakob Stämpfli, 75, der als Bub öfter im Zweisimmner Kinderheim
«Güetli» weilte, beschreibt Thönen als «wortkargen und strengen Mann». Er
vermutet, dass der Arzt bei ihm ein inexistentes Leiden diagnostiziert habe, um
das Kinderheim besser auszulasten. Stämpfli erinnert sich, dass im Kinderheim
von der Pro Juventute geschickte Kinder aus ärmeren Verhältnissen als
zweitklassig behandelt wurden. Ganz anders der Nachwuchs reicher Eltern wie
etwa der Enkel des italienischen Diktators Mussolini, der wohl durch Thönens
Kontakte ins Kinderheim gekommen sei. Wie andere Zeitzeugen sagt Stämpfli,
Thönen sei als Nazigauleiter von Bern im Gespräch gewesen, was sich in den
Akten nicht erhärten lässt.
Geistesverwandter
Musy
Thönen
begann sein Kontaktnetz zu den Spitzen der Nazis vor Hitlers Machtergreifung im
Januar 1933 zu knüpfen. Gemäss seinen eigenen Aussagen in Unterlagen der
Bundesanwaltschaft floh um 1925 Ernst Röhm, der Führer der NS-Kampforganisation
«Sturmabteilung» (SA), aus Deutschland und versteckte sich bei ihm in
Zweisimmen. Durch ihn lernte der Berner weitere prominente Nazis kennen. Am
30.Dezember 1930 erwiesen Röhm und Himmler gemäss Einvernahmeprotokollen der
Bundesanwaltschaft dem Zweisimmner Arzt sogar die Ehre, mit ihm im Zürcher
Nobelhotel Baur au Lac zu speisen.
Bei
Kriegsbeginn lernte Thönen im Sommer 1939 in Bad Lenk den 1934 abgetretenen
Freiburger CVP-Bundesrat Jean-Marie Musy (1876–1952) kennen. Auch dieser hegte
öffentlich Sympathien für die Nazis. Bei diesem Lenker Treffen, schrieb Thönen
im Brief von 1956, habe man die «Judenfrage» besprochen, welche Musy
beschäftigt habe. Als dieser vernahm, dass Thönen Himmler kenne, soll er ihn um
einen Kontakt zum SS-Chef gebeten haben.
Lukrativer
«Judenhandel»
Thönen und
Musy sind in einem Zusammenhang zu sehen, der heute unter Forschern unbestritten
ist: In den 1930er-Jahren war das Hauptziel der SS die Vertreibung der Juden
und noch nicht deren Vernichtung. Für dieses Projekt brauchte sie auch die
Hilfe wohlgesinnter Ausländer. «Helfer» wie Musy konnten Geld verdienen mit
einem «Judenhandel», wie die SS dieses Geschäft nannte. 1944 vermittelte Musy
im Auftrag einer jüdisch-orthodoxen Organisation in der Schweiz den Freikauf
von 1200 ungarischen Juden aus dem Konzentrationslager Theresienstadt. Dafür
verhandelte Musy mit Himmler und dessen Geheimdienstchef Walter Schellenberg.
Gegen Bezahlung von Lösegeldern liessen die Nazis die Juden in die Schweiz
ausreisen. Die jüdische Organisation bezahlte überdies Musy für dessen Dienste.
Weder Musy
noch Thönen können indes als klassische Judenretter bezeichnet werden. Thönen
gab laut den Akten des erwähnten Oberg-Prozesses von 1949 in seiner
Zeugenaussage selber zu, dass er «die Juden nicht besonders liebe». Hinzu
kommt, dass sowohl der Zweisimmner Arzt wie auch der alt Bundesrat 1940 der
bald darauf verbotenen pronazistischen Nationalen Bewegung der Schweiz (NBS)
angehörten. Dies zeigen NBS-Akten der Bundesanwaltschaft.
Empfang bei
Himmler
Obwohl Musys
Aktion von 1944 von der Geschichtsforschung durchleuchtet wurde, war bisher
unbekannt, dass Fritz Thönen dabei hinter den Kulissen agierte und im Voraus
bei den Nazispitzen das Terrain ebnete. Musy sprach im Januar 1941 selber bei
Himmler in Berlin vor, wurde gemäss Thönen aber schroff abgewiesen.
Im Brief von
1956 berichtete Thönen, wie er 1942 – im Rahmen der zweiten Schweizer
Ärztemission an die Ostfront in Russland – kurz vor Ostern einen Abstecher nach
Berlin machte. Dort traf er im Führerhauptquartier Himmler und dessen
Stellvertreter Reinhard Heydrich. Wichtiges Thema der zweitägigen Zusammenkunft
war offenbar ein grosser Plan für die Auswanderung von Juden aus dem deutschen
Reich.
Kurz nach
der Wannsee-Konferenz vom Januar 1942 also, an welcher die «Endlösung der
Judenfrage» – die industrielle Vernichtung der Juden – beschlossen worden war,
traf sich die SS-Spitze mit dem Berner Sympathisanten, um die Emigration von
Millionen von Juden zu diskutieren.
Dass Thönen
sein Treffen mit Himmler nicht erfunden hat, bezeugen Dokumente im Bundesarchiv
und ein falsch geschriebener Eintrag in Himmlers Dienstkalender, der in
Buchform publiziert ist. Am 2. und 3.April 1942 ist dort der Besuch eines «Dr.
Thoerner» vermerkt.
Eine Figur
in Himmlers Spiel
Wie kamen
die SS-Grössen dazu, 1942 einen Berner Landarzt extra nach Berlin zu holen? Es
ging offenbar um ein besonders wichtiges «Judenprojekt». Thönen könnte eine
Rolle in einem teuflischen Spiel Himmlers zugedacht worden sein. Viele
Historiker sind der Meinung, dass die SS-Führung nach der verlorenen Schlacht
bei Stalingrad von 1943 einen Sonderfrieden mit den Alliierten anstrebte. Um
diese Gespräche voranzutreiben, wurden Juden als Druckmittel eingesetzt. Die SS
drohte den Alliierten, die Juden mit industriellen Methoden auszulöschen, wenn
keine Verhandlungen und Lösegeldzahlungen erfolgten.
Um zu
signalisieren, dass die Erpressung wie auch das Versprechen des Freikaufs ernst
gemeint waren, wurde nach Thönens Besuch die Freilassung einiger Juden
beschlossen. Thönen behauptete später – am Prozess gegen Carl Oberg und im
Brief von 1956 – auf wenig glaubwürdige Weise, er habe sich bei Himmler aus
humanitären Beweggründen für Juden eingesetzt und die Interessen der Schweiz
verteidigt.
Himmlers
Sonderfrieden
Die Theorie,
dass die SS diesen Erpressungsplan noch vor Stalingrad 1943 einsetzte, wird
durch Bundesarchivsakten des Schweizer Geheimdienstmanns und früheren Berliner
NZZ-Korrespondenten Johann Meyer bekräftigt. Dieser berichtete Ende 1942:
«Himmler sei damit beschäftigt, Anschluss an die führenden Oppositionellen in
Deutschland und im Ausland zu suchen. Himmler sei zu diesem Zwecke in Lissabon
und in der Schweiz (Luzern) gewesen. In Luzern habe er einen gewissen Erfolg
gehabt. Himmler scheine die Absicht zu haben, im gekommenen Augenblick Hitler
zu beseitigen, um das Reich in ordentliche Verhältnisse zurückzuführen, mit
Hilfe einer neuen und umgebauten SS.» Meyer erwähnt auch die «heftige Reaktion
von England und USA auf den sog. Judenhandel».
Thönen war
als Vermittler für Himmler besonders gut geeignet, weil der Zweisimmner Arzt
nicht nur dessen Vertrauen genoss, sondern auch über langjährige gute
Beziehungen zum britischen Minister Leopold Amery verfügte, wie dies aus seinem
Briefwechsel mit dem Zürcher Pfarrer Rudolf Grob hervorgeht.
1939 setzte
sich Thönen bei Amery für die Freilassung zweier deutscher Bergsteiger ein, die
zusammen mit Pfarrer Grobs Bruder auf einer Himalaja-Expedition waren und in
englische Gefangenschaft gerieten. Thönens Magd berichtete gar über einen
Besuch des britischen Ministers in Zweisimmen.
Unter
Dauerbeobachtung
Für seine
Haltung zahlte Thönen in der fast geschlossen antinazistisch gesinnten Schweiz
einen Preis. Sein Dossier bei der Bundesanwaltschaft zeigt, dass er unter
Dauerbeobachtung stand. Sein Telefon wurde abgehört. Regelmässig wurde er von
der Schweizer Militärjustiz einvernommen. Zu einem Prozess wegen Hochverrats
kam es aber nicht, auch wenn es im Bundesarchiv Hinweise gibt, dass der Arzt
antischweizerische Informationen an die Nazis geliefert hatte.
Himmler
brachte Thönen sein Mitgefühl in einem Brief (siehe Nachdruck vordere Seite)
zum Ausdruck, in dem er ihm am 24.Juli 1940 schrieb: «Ich kann mir gut
vorstellen, dass Sie es bei den Schwierigkeiten, die Ihnen die ‹freundlichen›
Schweizer Volksgenossen gemacht haben, nicht schön und leicht gehabt haben.»
Thönen hatte offenbar Angst, den Brief des SS-Chefs bei sich aufzubewahren, und
übergab ihn der deutschen Botschaft, weshalb sich dieser heute im Archiv des
deutschen Auswärtigen Amts befindet.
Wessel-Lied
in Zweisimmen
Besorgte
Bürger störten sich an Auftritten des mit Nazispitzen verkehrende Thönen. Das
Gerücht machte 1938 die Runde, dass wegen Thönen in der Kinderabteilung des
Bezirksspitals Zweisimmen das nazistische Horst-Wessel-Lied gesungen werde. Der
Berner Professor Ludwig musste sich aber wegen der Verbreitung dieser Behauptung
bei Thönen entschuldigen. Die bei Thönen 1938/1939 als Köchin beschäftigte
Kathrin Sturzenegger sagte laut Akten der Bundesanwaltschaft aus, dass der Arzt
nationalsozialistische Lieder gesungen habe. So das «Horst-Wessel»-Lied oder
«Deutschland über alles». Sturzenegger behauptete überdies, an den
Loggia-Wänden hätten Porträts von Hitler, Himmler und Röhm gehangen.
Thönens
Wirtshausstreit
Am
20.November 1939 wurde Thönen von einem Militärgericht der öffentlichen
Beschimpfung für schuldig erklärt, begangen am Freitag, 27.Oktober 1939, im
Gasthaus «Bären» in Zweisimmen. Im Restaurant entfachte er eine heftige
Diskussion, nachdem ein Gast Hitler die Hauptschuld am Kriegsausbruch gegeben
hatte. Der Arzt griff nicht nur den Gast, sondern auch drei anwesende Soldaten
im Aktivdienst an, die der gleichen Meinung waren und für Hitler nichts übrig
hatten.
Der
aufgebrachte Thönen beschimpfte die Soldaten, sie seien «schöne
Vaterlandsverteidiger» und doch nur «Vaterlandsvertäfeler». Dafür bekam er drei
Tage scharfen Arrest.
«Arzt kam
vor Nazifreund»
Heute sagt
der Boltiger Lehrer, die politische Ausrichtung Thönens sei ihm nach dem Krieg
nicht weiter aufgefallen. Der Arzt sei eine «unabhängige Figur» gewesen. Der
1958 geborene Matthias Kurt, Touristiker an der Lenk und parteiloser Grossrat,
weiss aus Erzählungen seiner Grosseltern, dass Thönen polarisierte,
Freundschaften aber dennoch bewahrte, weil er Politisches und Privates trennen
konnte.
Für Kurt ist
rückblickend klar: «Thönen war als Arzt ein Original und Spitzenklasse.» Was
man von Thönen in Zweisimmen bis heute halte, bringt Kurt auf eine kurze
Formel: «Der Arzt kam vor dem Nazifreund.»
Shraga Elam
Der Autor:
Shraga Elam (zeitpunkt@bernerzeitung.ch) ist israelischer Journalist in Zürich.
Mitarbeit:
Stefan von Bergen, «Zeitpunkt»-Leiter.
*Das Bild von
Fritz Thönen stammt aus Frédéric Gonseths Dokumentarfilm
«Mission en enfer» (Mission des Grauens) über die Schweizer Ärztemission an der
Ostfront, (www.artfilm.ch/missionenenfer.php). Als DVD erhältlich:
www.fgprod.ch.
THÖNENS
BRIEF von 1956
Neues
Schlüsseldokument
Ein Auslöser
für obigen Text ist ein neu aufgetauchter Brief Fritz Thönens vom 17.November
1956, der in seinen Akten im Bundesarchiv fehlt. Der Zweisimmner Arzt
beschreibt darin seine Kooperation mit dem nazifreundlichen alt Bundesrat
Jean-Marie Musy und sein brisantes Treffen mit SS-Führer Heinrich Himmler. Mit
der Formel «wir halfen, wo wir nur konnten», versucht Thönen sich selbst und
Musy im Schreiben nachträglich als Judenretter mit humanitären Motiven
darzustellen.
Thönen
richtete seinen Brief an einen namentlich nicht genannten «Herrn Professor»,
der einen Gedenkband für den 1952 gestorbenen Musy plante, in dem offenbar auch
ein Beitrag Thönens vorgesehen war. Eine Kopie des Briefs gelangte zu einer
jüdischen Familie. Offenbar um zu belegen, dass Thönen kein Nazi, sondern bloss
«deutschfreundlich» gewesen sei.
se
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