Fotograf: Gil Nitzan (Herzliya)
60 Jahre Israel – ein Grund zum Feiern?
Von Shraga Elam
Nicht nur Palästinenser, sondern auch eine wachsende Anzahl Juden sieht keinen Grund, 60 Jahre Israel zu zelebrieren.
Anlässlich des 60. Geburtstags Israels werden meist entweder die enormen Leistungen oder nur die Mängel des Landes hervorgehoben.
Differenzierter drückte sich am Unabhängigkeitstag vom 8. Mai Gila Almagor, die erste Dame des Kinos und Theaters, im Staatsradio aus. Sie erwähnte zwar die grossartigen kulturellen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Errungenschaften. Trotzdem konnte sie ihre grosse Trauer und Enttäuschung angesichts von Missständen, wie des unmenschlichen Umgangs mit den Shoa-Überlebenden, der wachsenden Armut oder dem grassierenden Rassismus, nicht verbergen.
Und in einem TV-Beitrag über den Krieg von 1948 waren sich Veteranen einig, sie hätten nicht für einen solchen Staat gekämpft.
Es gibt unübersehbare Verdienste wie die Wiederbelebung der hebräischen Sprache und die Schaffung der damit verbundenen umfangreichen Kultur. Auch die verblüffenden makroökonomischen Leistungen sind nicht zu übersehen: Israel ist weltführend in Bereichen wie High-Tech, Landwirtschaft, Pharmaindustrie und ist viertgrösster Waffenexporteur der Welt. Der internationale Einfluss Israels ist seit dem Krieg von 1967 unverhältnismässig gross, was Judeophobe dazu verleitet, massiv zu übertreiben und eine „jüdische Weltverschwörung“ zu erdichten.
Der israelische Sieg von 1967 ermöglichte den grossen Sprung auf dem internationalen Parkett und hatte zur Folge, dass Juden in westlichen Ländern eine noch nie dagewesene Lage geniessen.
Dieser beeindruckende Leistungsausweis kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich das zionistische Projekt in einer schwerwiegenden Krise befindet. Angesichts der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern können sich immer mehr Juden im In- und Ausland nicht mehr mit dem Staat identifizieren. Wegen dieser Politik stellt Israel eine wachsende Bedrohung für Juden dar.
Immer mehr Juden stellen die Frage, ob der jüdische Nationalismus wirklich in ihrem Interesse ist und war. Die Stimmung in ultraorthodoxen Kreisen etwa kommt im folgenden Witz zum Ausdruck: Im Mai 1948 fragt eine Frau ihren Mann besorgt: «Hast Du gehört Moische? Der Staat Israel wurde gegründet. Was sollen wir nur tun?» «Mach Dir keine Sorgen,» beruhigt sie Moische: «Wir haben so viele schlimme Dinge überlebt, sogar Hitler! Wir werden auch den Staat Israel überleben»
In Israel, welches das Image des Zufluchtsorts für verfolgte Juden pflegt, wächst der Unmut wegen der schlechten Behandlung jüdischer Immigranten, allen voran von Shoa-Überlebenden. Erst jetzt wird in der Öffentlichkeit ernsthaft thematisiert, dass diese beispielsweise in Israel weniger Reparationsgelder als sonstwo bekommen, weil der Staat die Gelder kassiert.
Noch schwerer wiegt das schwindende Vertrauen in die politische und militärische Führung infolge zahlreicher Korruptionsaffären und gravierender Fehler. In der wachsenden Armut, dem zusammenbrechenden Erziehungssystem oder der gefährlichen Wasserknappheit manifestiert sich das Versagen. Auch die militärischen Bedrohungen werden nicht kleiner; nicht zuletzt, weil die Armeeführung immer wieder politische Lösungen zu torpedieren weiss.
Sogar rechtsradikale Militärhistoriker wie Dr. Uri Milstein attestieren der Armee sehr schlechte Noten und werfen ihr fehlende Professionalität vor. Die bisherigen militärischen Erfolge wurden gemäss Milstein mehrheitlich durch die Schwäche des Feindes erzielt; gebe es keine wesentliche Änderung, sehe er schwarz. Ebenfalls schwarz sieht der IT-Guru Dov Frohman: «Die High-Tech ist die Lokomotive der israelischen Wirtschaft, die jedoch nur wenigen Arbeit bietet. Es gibt eine riesige Kluft [zwischen Reichen und Armen], die zu sozialen Unruhen führen wird. Hinzu kommt, dass unser heutiger Erfolg auf dem Erziehungssystem vor 25 Jahren beruht, welches vernachlässigt wurde. Deshalb muss mit einem Absturz gerechnet werden.» (Globes 7.5.2008). Frohman glaubt, dass Israel mehr als die Palästinenser den Frieden brauche, weil es mit sehr vielen Problemen konfrontiert sei, die in Zukunft womöglich nicht mehr zu bewältigen seien.
Israelische Intellektuelle meinen, immer mehr Bürger würden sich vom Staat entfremden. Rechte wie Linke tun sich zunehmend schwer, sich mit Israel zu identifizieren. Friedensbefürworter stossen sich an der Politik gegenüber den Palästinensern, und Rechtradikale fühlen sich wegen der Räumung der Siedlungen in Gaza verraten. Beide Seiten rufen zur Militärdienstverweigerung auf und wollen die Staatsflagge nicht mehr hieven.
In Israel ist die Situation gravierender als in anderen kollabierenden Ländern, denn der Staat befindet sich im Kriegszustand, und immer weniger Leute sind bereit, ihr Leben für korrupte und unfähige Politiker und Generäle zu opfern. Der Militärhistoriker Eviathar Ben Zedef spricht deshalb von einer drohenden Kanonenfutter-Revolte.
Stets mehr Bürger fühlen sich vom Staat ausgenutzt. Bei ihnen staut sich ungeheurer Frust und grosse Wut auf, von welcher wohl am ehesten die Rechtsradikalen profitieren könnten.
Ultraorthodoxe tragen Säcke (Trauerzeichen) und zünden die israelische Flagge an.
Jerusalem 7.5.2008 (AP)
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