Von SHRAGA ELAM, 9. Mai 2008:
Viele israelische Kommentatoren sind sich einig, dass die „Liquidierung“ von vier islamischen Jihad-Militanten in Betlehem am 12.3.2008 nicht das Ziel hatte, eine „tickende Bombe“ zu entschärfen, denn diese Leute waren nicht mehr aktiv. Hingegen ist klar, dass die Aktion den brüchigen Waffenstillstand, den die Hamas in Gaza befolgt, gefährden wird.
Vorsichtig fragt die Tageszeitung Ha’aretz in einem Hauptkommentar, welche Ziele die Regierung eigentlich verfolge:
»Der Zwischenfall wirft Fragen auf und fordert Antworten. Gemäss der bisherigen deklarierten israelischen Politik werden Gesuchte, die der Verantwortung für vergangene Attentate verdächtigt werden, nicht behelligt, wenn sie nicht mehr aktiv sind. Der Shabak [Inlandsnachrichtendienst], die Armee und die Polizei sind mit der Verhinderung von heutigen Attentaten überlastet und haben keine Ressourcen für eine permanente Verfolgung von denjenigen, die ihre Waffen niederlegten.
(…)
Die Öffentlichkeit hat das Recht zu erfahren, was genau in Betlehem passierte. Wer hat diese Aktion bewilligt und inwiefern – wenn überhaupt – wurde der Zusammenhang mit den paar ruhigen Tagen an der Gaza-Front geprüft? Nicht weniger wichtig ist es zu erfahren, was Israel will, das ab jetzt geschehen soll. Die Geschichte des Konflikts mit den Palästinensern ist voll von Ereignissen, die - zurecht oder unrecht - als schädlich für die Chance, eine Beruhigung zu erzielen, dargestellt wurden, wie etwa die Tötung des Fatah-Mannes Ra’ed Karmi Anfang 2002. [i]«
Mit der Tötung Karmis beendete die Armeeführung einseitig den damaligen Waffenstillstand und löste auch in Israel grosse Empörung aus. Damals entstand einerseits eine neue Kriegsdienstverweigerer-Bewegung, anderseits wurden wieder palästinensische Attentate verübt, was die israelische Armee als Vorwand für eine weitere Eskalation nahm, die in der bekannten Schlacht um Jenin vom April 2002 gipfelte. Eine ähnliche Operation im Gazastreifen wurde dann jedoch von den USA gebremst.
Im besagten Kommentar wirft Ha’aretz dem Premier Ehud Olmert und „Verteidigungs“-Minister Ehud Barak Arroganz und Autismus vor, weil sie ihre Politik ihren Wählern nicht erklären.
Dabei ist die herrschende Linie leicht erkennbar. Bei allen kolonialistischen Unternehmen kann man zwei Haupttendenzen feststellen: entweder die Vertreibung bzw. Ausrottung der einheimischen Bevölkerung oder ihre Ausbeutung. Bei der zweiten Möglichkeit gibt es wiederum zwei Varianten: entweder die direkte Beherrschung (Alt-Kolonialismus) oder die indirekte Kontrolle (Neo-Kolonialismus).
Die israelische Politik hat bislang alle Varianten ausgeübt. Ein Teil der Palästinenser wurde 1947-48 vertrieben (über 700.000), ein anderer ist unter israelischer Herrschaft geblieben. 1967 wurden ca. 250.000 Menschen zusätzlich deportiert. Mit der Eroberung der West Bank und des Gazastreifens beherrschte Israel eine dennoch beträchtliche Anzahl Araber. Viele von ihnen wurden danach als billige Arbeitskräfte beschäftigt; gleichzeitig wurde Druck zur Auswanderung ausgeübt.
In Israel wurde heftig über die Zukunft debattiert. Eine Minderheit plädierte offen für die „gewaltlose“ Vertreibung der Palästinenser, verharmlosend „Transfer“ genannt. Der jetzige Staatspräsident Shimon Peres befürwortete in der 80-er Jahren eine jordanische Verwaltung unter israelischer Hoheit in der West Bank. Ariel Sharon unterstützte damals die »Dorf-Vereinigung«, palästinensische Milizen, die die Terrorbekämpfung für Israel verrichten sollten.
Nach dem Scheitern der ersten Intifada, des palästinensischen Volksaufstandes, der im Dezember 1987 begann und infolge der palästinensischen Finanz- und Politkrise nach dem zweiten Golfkrieg von 1990-91, suchte die PLO-Führung unter Yassir Arafat eine Rettung und wandte sich schliesslich an die israelische Führung. Sie gab zu verstehen, dass sie bereit wäre, die direkte Unterdrückung der Palästinenser zu übernehmen, wenn ansehnliche finanzielle Leistungen folgen würden. [ii]
So kam es zum Oslo-Abkommen vom September 1993, in welchem die PLO weniger bekam, als im Rahmen des Abkommens zwischen Israel und Ägypten 1978/79 angeboten wurde.
Der damalige israelische Gesundheitsminister und heutige stellvertretende Ministerpräsident Haim Ramon formulierte die herrschende israelische Position schon im April 1993 wegweisend: « Ein Abkommen kann nur mit jemandem geschlossen werden, bei dem die Hoffnung besteht, dass er die Situation auch wirklich unter Kontrolle hat. Doch selbst in diesem Fall wäre es möglich, dass die Partner sich nicht daran halten können und irgend jemand anderer an die Macht kommt. Und trotzdem sage ich, dass dies besser ist als die heutige Situation. Es ist auch möglich, dass die Terrororganisationen die Macht ergreifen werden. Doch wenn Terror in Gaza herrscht, werden wir bestimmter, gewaltsamer, freier und ungehemmter reagieren können als heute. [iii]»
Eine Gegnerschaft des Oslo-Prozesses entwickelte sich in Israel nicht nur bei den Rechtsradikalen, sondern auch in der Armee. Diese Kreise fanden Verbündete beim US- Militär-Industrie-Komplex, welcher sich durch Militärbudgetkürzungen gefährdet sah. Denn während der Clinton-Ära sanken die Militärausgaben auf das tiefste Niveau seit den 30er Jahren.
Um das Militärbudget zu erhöhen, brauchte es eine Bedrohung. In einem Papier vom Juli 1996 schlugen US-Neokonservative dem damaligen israelischen Premier Benyamin Netanyahu vor, wie mit gemeinsamen Kräften die Bemühungen um die Entschärfung des militärischen Konflikts im Nahen Osten zu sabotieren und das Feindbild der arabischen bzw. islamischen Welt zu verstärken sei.
Ein Kernelement war die Zerschlagung des Oslo-Prozesses. Es hiess dort:
» Israel hat keine Verpflichtungen unter den Oslo-Abmachungen, wenn die PLO ihre Verpflichtungen nicht erfüllt. Entspricht die PLO diesen minimalen Anforderungen nicht, dann kann sie weder Hoffnung für die Zukunft noch ein Gesprächspartner in der Gegenwart erwarten. [iv]«
Im September 1996 entwickelte die israelische Armee den Plan »Operation Dornenfeld«, dessen Massnahmenkatalog in groben Zügen beschreibt, den das Militär gegenüber den Palästinensern seit September 2000 ausübt. Von den darin empfohlenen Massnahmen sind lediglich die Beseitigung der palästinensischen Behörden und die Vertreibung der Palästinenser noch nicht vollständig umgesetzt. [v]
Es gibt zahlreiche Erklärungen von Generälen und Politikern, die ihre »Enttäuschung« über den Oslo-Prozess zum Ausdruck bringen und dass die palästinensischen Behörden die »Terrorbekämpfung« für Israel entweder nicht erledigen wollen oder können.
In einer Serie beschreibt die israelische Zeitung Ma'ariv, wie die Armeeführung mit Hilfe von Kreisen der Polizei - aber ohne Einwilligung der Regierung - die zweite Intifada provoziert habe. Der damalige Premier Barak habe noch vielversprechende Verhandlungen mit Arafat geführt. » Israel ist eine Armee, die einen Staat besitzt«, untertitelte Ma'ariv den ersten Teil der Serie [vi]. Der israelische Kommentator Doron Rosenblum schreibt von einem »stillen Putsch« der Armeeführung [vii]. In einem aktuellen Dokumentarfilm schildern diverse Entscheidungsträger, wie am Anfang der Zweiten Intifada im September 2000 die Armee eigenmächtig agierte [viii].
Solche Eigenmächtigkeit der Generäle ist kein Einzelfall. So beschreibt der israelische Historiker Motti Golani, wie die Armeeführung in der Vergangenheit immer wieder die Politik diktierte und friedliche Lösungen wiederholt verhinderte. Zusammen mit anderen spricht er z.B. vom Aufstand der Generäle, die damit den Krieg von 1967 erzwangen [ix].
Seit 2000 versucht die Armeeführung die anti-palästinensischen Massnahmen ständig nach den Linien der Operation Dornenfeld zu verschärfen. Nur der US-Druck verlangsamt diesen Prozess, zu stoppen vermag er ihn indes nicht. Wenn man die verschiedenen bisherigen israelischen Handlungen – wie die massive Belagerung von palästinensischen Gebieten, der Bau von Mauern, Strassenabriegelungen, die Beseitigung von Politikern usw. – betrachtet, so ist die Schlussfolgerung zwingend, dass die Errichtung eines palästinensischen Staates in den seit 1967 besetzen Gebieten unmöglich ist und eine schleichende ethnische Säuberung längst im Gange ist, deren Ausmass sich nur erahnen lässt. Die Zerstörung von Infrastrukturen, die Verhinderung adäquater Ernährung und medizinischer Versorgung, der heftige Wirtschaftskrieg sowie die massiven Einschränkungen der Bewegungsfreiheit führen unweigerlich zu einer höheren Sterblichkeitsrate und auch zur Auswanderung. Es gibt darüber leider keine genauen Zahlen, denn die meisten Berichte weisen zwar auf die Missstände und die gravierende humanitäre Krise hin, jedoch weniger auf deren gesundheitlichen Auswirkungen und die Lebenserwartung der Palästinenser [x].
Im jüngsten Oxfam-Bericht kann man beispielsweise lesen, wie schlecht die Elektrizitätsversorgung in Gaza sei, was auch Einfluss auf den Gesundheitszustand der Menschen habe. Nach der israelischen Bombardierung von 2006 wurde die Produktionskapazität von 140 Megawatt auf heutige 80MW reduziert. Infolge der israelischen Restriktionen von Treibstofflieferungen werden nur 55-65MW erzeugt.
Obwohl die politischen Umstände bislang eine offene Massenvertreibung nicht ermöglicht haben, versteht es die israelische Armeeführung stets, Palästinenser zu provozieren, um diesem Ziel näher zu kommen. Wenn Palästinenser mit Anschlägen auf israelische Provokationen reagieren, werden diese als Rechtfertigung für die weitere Eskalation benutzt. Obwohl viele Palästinenser für den gewaltlosen Widerstand plädieren, hat der bewaffnete Kampf in der palästinensischen Gesellschaft einen hohen emotionalen und symbolischen Stellenwert. Dabei haben die Gewaltaktionen den Palästinensern bisher weit mehr geschadet als den Israeli. Für Israel haben sie keine existenzielle Bedrohung dargestellt, sondern vielmehr Verständnis und Unterstützung gebracht.
Die meisten Palästinenser werden quasi als Geiseln gehalten. Je erfolgreicher eine bewaffnete palästinensische Aktion ist, desto härter fällt die israelische Reaktion aus. Es wird dadurch mehr Hass und Aggression erzeugt, und in geschickten Medienkampagnen wird sowohl weltweit als auch in Israel ein negatives Bild der Palästinenser erzeugt und zementiert. Die Botschaft, dass mit Palästinensern keine friedliche Lösung möglich sei, kommt bei vielen Israelis gut an.
Junge Palästinenser werden von ihren eigenen Anführern verheizt und ausgenutzt. Diese versuchen mit unsinnigen Terroranschlägen primär sich selbst zu profilieren und ihr Prestige als grosse vermeintliche Freiheitskämpfer zu festigen. In Israel spielt sich auf der anderen Seite eine »Kanonenfutter-Revolte« ab, was zum Teil mit einer wachsenden offenen und versteckten Militärdienstverweigerung zum Ausdruck kommt. Denn immer mehr Menschen fühlen sich verheizt.
Aus lauter Verzweiflung und Enttäuschung über den Osloer »Friedens«-Prozess und die korrupten palästinensischen Behörden gewann 2006 die islamistische Bewegung Hamas die Wahlen. Die Hamas-Wahlbeteiligung war ein gravierender Fehler, denn damit wurde Israel eine Ausrede geliefert, die anti-palästinensischen Massnahmen noch zu verschärfen. Eigentlich hätte die israelische Regierung die Wahlbeteiligung der Hamas verhindern können. Heute wird in Israel argumentiert, die US-Regierung habe Druck ausgeübt, dass die Hamas im Rahmen der angeblichen Demokratisierung der Region an den Wahlen habe teilnehmen sollen.
Die Behauptung ist nicht überzeugend, wenn man beispielsweise berücksichtigt, dass kurz vor den Wahlen ausgerechnet ein zentraler Hamas-Politiker, der moderate Führer der Westbank, Sheikh Hassan Yousef, der gegen die Teilnahme an den Wahlen war, von Israel verhaftet wurde. Der Ha’aretz-Militärexperte Amir Oren ist der Meinung, dass Sharon und Olmert die Hamas-Beteiligung an den Wahlen nicht verhindern wollten. Er schrieb u.a.: »Um sich der Verantwortung für den israelischen Beitrag zum Hamas-Sieg zu entziehen, kritisieren Regierungsstellen in Jerusalem das palästinensische Wahlsystem. [xi]«
Nach ihrem Wahlsieg wuchs der israelische Druck deutlich und die ohnehin zerstörte palästinensische Wirtschaft wurde von Israel an den Rand des Zusammenbruchs gedrängt. Trotzdem unterliess die Hamas-Führung aus egoistischen Gründen, ihren kardinalen Fehler zu korrigieren. Beispielsweise hätten sie die palästinensischen Behörden (PA – Palestinian Authority) auflösen können. Diese Institutionen wurden durch das beschämende Oslo-Abkommen kreiert, das die Palästinenser massiv benachteiligte. Die PA dienten mehrheitlich dazu, Israel die indirekte Okkupation zu ermöglichen, ohne dass die Besatzer die direkten finanziellen Kosten dafür bezahlen mussten. Gemäss Genfer Konvention hat eine Kolonialmacht die Verpflichtung, eine besetzte Bevölkerung zu versorgen und nicht, ihre Infrastrukturen zu zerstören. Eine Rückkehr zur Vor-Oslo Situation hätte viele Vorteile, nicht umsonst ist dies für die israelische Machtelite ein Horrorszenario.
Aus lauter Machtgier putschte die Hamas in Gaza und lieferte damit den israelischen Machthabern einen guten Vorwand, die Belagerung und die Angriffe noch zusätzlich zu verschärfen. Ihre Drohungen der Wiedereroberung Gazas mehren sich.
Ähnlich wie vor dem Krieg von 1967 reagieren jetzt militante Palästinenser, wie damals die syrische Führung, falsch auf israelische Provokationen. Als Mitte der 60er-Jahre die israelische Armeeführung verhindern wollte, dass Syrien Wasser aus den Zuflüssen zum Jordan abzweigt, wurden z.B. gepanzerte israelische Traktoren in die entmilitarisierte Zone an die syrische Grenze geschickt. Das war gegen das Waffenstillstandsabkommen, welches in diesen Gebieten die Einführung gepanzerter Fahrzeuge untersagte. Die Syrische Armee beschoss sie mit Kleinwaffen, darauf rückte die israelische Armee mit Tanks aus, worauf die syrische Seite mit Mörsern antwortete und auch israelische Siedlungen angriff. Israelische Jets wiederum bombardierten daraufhin u.a. syrische Wasserbauten.
Über mehrere Jahre gab es zahlreiche ähnliche Grenzgefechte. Syrien reagierte fast immer auf die israelischen Provokationen und wurde dann in der Weltpresse auch als ‚der‘ Aggressor dargestellt, welcher auf friedliche Zivilisten losgehe. Dieser Mechanismus diente den israelischen Generälen bei der Eskalation, die zum Krieg von 1967 führte. Dies gab auch der damalige Kriegsminister Moshe Dayan in einem Interview von 1976 zu, welches jedoch erst 21 Jahre später veröffentlicht wurde: » Ich weiss, wie mindestens 80 Prozent der Auseinandersetzung begannen. Ich denke, dass es mehr als 80 Prozent waren, sprechen wir aber von 80 Prozent. Es fing wie folgt an: Wir schickten einen Traktor aufs Feld, dorthin, wo man gar nichts bewirtschaften konnte, in die demilitarisierte Zone. Wir wussten im Voraus, dass die Syrer anfangen würden zu schießen. Wenn sie nicht schossen, sagten wir dem Traktor, er solle weiter nach vorne fahren, bis es den Syrern am Ende zu bunt wurde und sie zu schießen anfingen. Dann beschossen wir sie mit unserer Artillerie und später mit der Luftwaffe. So war das. [xii]«
Wie heute Einwohner der beschossenen Stadt Sderot in der Nähe von Gaza ihre Regierung unter Druck setzten, diese soll endlich Gaza invadieren, so forderten die von den Syrern bombardierten Kibbuzmitglieder in den 60-er Jahren endlich die „bedrohlichen“ Golanhöhen zu erobern. Dies, obwohl den meisten von ihnen der Traktorentrick bekannt war, denn sie wurden in der Regel bei den erwähnten Grenzzwischenfällen vorgewarnt [xiii]. Dayan meinte, dass die eigentliche Motivation dieser Kibbuzniks die Aneignung des Landes auf den Golanhöhen gewesen sei [xiv].
Im Vorfeld dieses Krieges erzeugte der ägyptische Präsident Gamal Abdul Nasser durch seine hohlen Drohgebärden den falschen Eindruck, der kleine Judenstaat stünde unter einer enormen Bedrohung. Dies tat er, weil er den Druck auf Syrien reduzieren wollte. Seine Rhetorik und Handlungen boten dem israelischen Oberkommando aber eine Chance, die es sich nicht entgehen lassen wollte, und es griff Ägypten, Jordanien und später Syrien an.
Zurzeit läuft ein ähnlicher Mechanismus gegen die Hamas-Führung ab, welche sich zwar nicht immer provozieren lässt. Die Fälle, in welchen sie oder andere palästinensische Organisationen dennoch mit Gewaltaktionen reagieren, reichen für die Zwecke der israelischen Entscheidungsträger aber voll aus.
Abgesehen davon betreibt Hamas eine ganz üble Hasspropaganda, die überdies antijüdische rassistische Elemente beinhaltet, was die israelische PR-Maschinerie ausnützt: Genüsslich zeigen israelische TV-Sender schlimme hetzerische Kindersendungen des Hamas-TV und „beweisen“ damit, dass es mit der Hamas nichts zu verhandeln gebe.
Der Hass der Palästinenser gegenüber den israelischen Unterdrückern ist verständlich, auch wenn das keine noble Haltung ist. Der Hass ist nachvollziehbar, denn man kann einem Menschen Vieles nehmen - Besitztum und sogar das Leben. Man kann Menschen erniedrigen und verfolgen, aber eines ist nicht möglich: ihm das Anrecht, seine Peiniger zu hassen, abzusprechen.
Die Manipulation von Kindern oder Erwachsenen ist trotzdem unbedingt abzulehnen. Die undifferenzierte und rassistische Haltung schadet primär den Palästinensern selber. Auch jüdische Erfahrungen zeigen, dass der Hass gegen Peiniger nicht zu einem zentralen, Identität stiftenden Element degradieret und nicht als Grundlage für eigene Kriegsverbrechen dienen darf. Der israelische Philosoph und Auschwitz-Überlebende Yehuda Elkana wies auf die Gefahren der falschen Lehre aus einer Leidensgeschichte wie derjenigen der NS-Judenvernichtung hin: » Mit verschlossenem Verstand und auch mit versiegeltem Herzen haben wir das “Erinnere Dich”[an den NS-Judeozid -se] deklamiert, ohne uns um seine Auslegung zu kümmern. Wozu? Was soll ein Kind mit solchen Erinnerungen machen? Von sehr vielen werden solche Gräuelbilder als Aufruf zum Hass gedeutet. “Erinnere dich!” kann als Aufforderung zu dauerndem und blindem Hass verstanden werden. [xv]«
Die jetzige Eskalation steht vor anderem auf dem Hintergrund, dass Olmert und Barak unbedingt vom sehr ungünstigen Untersuchungsbericht über den Zweiten Libanonkrieg von 2006 ablenken wollten. Dieser sogenannte Winograd-Report erhöhte den Druck auf Olmert als Premier. Barak versprach vor einigen Monaten, dass er nach der Veröffentlichung des Schlussberichts zurücktreten würde. Beide Politiker kleben aber fest an ihren Stühlen und brauchen dringend ein Ablenkungsmanöver, das ihre zahlreichen Gegner zum Schweigen bringt. So konnte Barak seine Freude nach einem palästinensischen Attentat in der Wüstenstadt Dimona am 4.2.2008 kaum verstecken. Es diente als willkommener Anlass, um die Angriffe gegen den Gazastreifen zu intensivieren.
Seitdem spricht praktisch niemand mehr vom Winograd-Bericht. Da Olmert aber wegen schwerwiegenden Korruptionsverdachts erneut unter massiven Druck geraten ist, wächst seine Motivation, durch eine grosse Militäraktion auch von diesem abzulenken.
Eine Analyse der zahlreichen Äusserungen israelischer Politiker und Generäle gibt eindeutig zu verstehen, dass sehr bald eine grosse Militäraktion in Gaza lanciert wird, obwohl die US- wie auch die ägyptische Regierung sich vordergründig bemühen, diese Gefahr abzuwenden.
Israelischen Medien war zu entnehmen, dass nach der 60-Jahrfeier des Staates eine Grossoperation in Gaza zu erwarten sei.
Es ist klar, dass die israelische Armee keine grosse Bodenoperation riskieren wird, ohne den Gazastreifen vorher massiv unter Beschuss zu nehmen. Bei einem solchen Szenario würden womöglich die meisten Palästinenser nach Ägypten fliehen, was durch die Sprengung der Mauer zwischen dem Gazastreifen und Ägypten begünstigt würde. Dies käme der israelischen Führung gelegen, da sie nach einer Wiederbesetzung des Gazastreifens keine direkte Kontrolle über die Palästinenser anstrebt. Denn das wäre für Israel politisch schädlich und sehr teuer.
Die Bombardierungsstrategie wurde 2006 gegen die Hizballah in Libanon verwendet. Damals flohen Hunderttausende Zivilisten. Im Südlibanon erzielte die israelische Armee trotzdem eher eine Niederlage. Die topographische Situation sowie die militärischen Verhältnisse im Gazastreifen sind hingegen völlig anders. Wenn dort alle Zivilisten weg sind, kann das israelische Militär ohne Hemmungen sämtliche ‚Widerstandsnester‘ aus der Distanz vernichten.
Ein solches Bombardierungs- und Vertreibungsszenario formulierte der israelische Militärhistoriker Martin van Creveld bereits 2002: Er meinte, dass Israel den damals bevorstehenden Irakkrieg für eine Massendeportation benutzen könnte: « Für die Vertreibung der Palästinenser braucht man nur einige Brigaden. Sie werden die Menschen nicht einzeln aus ihren Häusern schleppen, sondern schwere Artillerie einsetzen, damit sie von selbst weglaufen. [xvi]»
Es erstaunt nicht, dass gemäss einigen Medienberichten die israelische Regierung die völkerrechtliche Grundlage für die Bombardierung von zivilen Gegenden abklärt.
» Barak wollte in einer Diskussion in der Knesset Meinungen über die juristischen Implikationen der möglichen militärischen Aktionen in Gaza hören; darunter die folgenden Optionen: einen Abbruch der Treibstofflieferungen nach Gaza, die Beschiessung der Quelle eines Raketenabschusses mit einem einzigen Artilleriegeschoss, Rodung von Gebieten im Gaza, woher die Qassam Raketen abgeschossen werden, Räumung dieser Gebiete von Zivilisten und Granatbeschuss oder Bombardierung von Gebieten, nachdem die Zivilisten aufgefordert werden, diese zu verlassen. [xvii]«
Auch die Aussage des stv. „Verteidigungs“-ministers, General a.D. Matan Vilnai, am 29.2.2008, die Palästinenser erwarte in Gaza eine noch grössere Shoa, verstärkt den Eindruck, dass eine grauenhafte Zuspitzung kurz bevor steht. Zwar wurde das Wort ‚Shoa‘ fälschlicherweise als ‚Holocaust‘ übersetzt, dabei bedeutet Shoa - ohne bestimmten Artikel „die“ - auf Hebräisch „nur“ Desaster oder Katastrophe. Aber auch eine Katastrophe ist selbstverständlich schlimm genug.
Vilnai sagte im israelischen Militärradio:
» Wenn die Palästinenser noch mehr Raketen abschießen und deren Reichweite vergrößern, werden sie eine noch größere Katastrophe [Shoa – im Original – se] auf sich ziehen, [weil] wir dann in jeder Form unsere ganze Macht, die wir für richtig halten, einsetzen werden. [xviii]«
Einen Tag zuvor wollte Vilnai im TV-Sender Kanal 10 die bevorstehenden Massnahmen nicht näher erläutern und sagte, sie seien so schlimm, dass er nur „off the record“ etwas dazu sagen wolle [xix].
Am 19. März beendete das südliche Abschnittskommando in Israel ein Manöver mit dem bedeutungsschwangeren Namen »gespannte Feder«, das eine Gaza-Invasion simulierte. Gleichentags wurde eine andere Stabsübung zusammen mit Offizieren des United States European Command (EUCOM) abgeschlossen. Im Rahmen dieser viertägigen Operation ‚Juniper Falcon‘ wurden extreme Situationen anhand von Szenarios aus den letzten Jahren und der näheren Zukunft exerziert [xx].
Solche Übungen finden zwar jedes Jahr statt, schreibt die israelische Zeitung Israel Hayom, aber sie haben jetzt spezielle Bedeutung erlangt, da der Generalstabchef Gabi Ashkenazi das Militär instruiert habe, sich für eine Gaza-Invasion bereit zu machen. Israel Hayom berichtet, es sei der Armeeführung klar, dass » es keine Alternative zu einer Bodenoperation gebe. [xxi]«
Gemäss einem Bericht von nrg, der Nachrichten-Webseite der Zeitung Ma’ariv bestehen Spannungen zwischen Kriegsminister Barak und dem Generalstabschef Ashkenazi. Aus diesem Artikel geht hervor, dass Askenazi Barak für zu zaghaft halte und ihn deshalb unter Druck setze, endlich den Grossangriff zu lancieren. Die Verzögerung koste Barak auch Popularität beim israelischen Publikum, welches mehrheitlich in eine Falle tappt und wieder nach einer sehr blutigen Aktion mit voraussehbaren gravierenden Folgen für beide Seiten, also nach einer Katastrophe, einem Armageddon-Szenario, lechzt.
nrg schreibt: »Zumindest im Moment kann man Baraks Schritte [die Verzögerung der Grossaktion – se] als Zivilcourage betrachten.
(…)
Zwischen dem Bestreben, der Hamas einen harten umfangreichen Schlag zu erteilen und dem Willen, kühlen Kopf zu bewahren, gibt es sehr viele Spannungen. Vor anderthalb Wochen dementierte mir gegenüber das Büro des Verteidigungsministers, dass eine ausserordentliche Spannung zwischen Barak und Ashkenazi herrsche.« Offiziere behaupteten hingegen, dass es im Rahmen der Operation »heisser Winter« der Givati-Brigade in Gaza zwischen den beiden zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen sei.
In den letzten Jahren dementierte man im Sicherheitsapparat, dass es Spannungen unter den Offizieren und zwischen hochrangigen Militärs und dem Chef des Sicherheitsapparats gab. Alle diese [Meldungen über - se] Spannungen erwiesen sich später als sehr richtig. Der Druck auf die Entscheidungsträger zeigt Wirkung. [xxii]«
Es scheint, dass sehr viele Israeli und Palästinenser jenseits ihrer Träume vom Verschwinden des Anderen vergessen, dass sie beide wie unzertrennbare Siamesische Zwillinge dazu verdammt sind, entweder zusammen zu leben oder zusammen zu sterben.
Ein noch viel grösseres Blutbad in Gaza, gekoppelt mit einer Massenvertreibung der Palästinenser, wird höchstwahrscheinlich nicht ohne Reaktionen der arabischen bzw. muslimischen Welt bleiben. Sie braucht keine Atombombe zu haben, um Israel in eine sehr bedrohliche Lage zu versetzen. Weil die israelische Regierung seit Jahrzehnten auch eine verbrecherische Umwelt- und Energiepolitik betreibt, ist es relativ einfach, das Land lahm zu legen und sehr viele Menschen in Gefahr zu bringen. Anstatt beispielsweise dezentral mehrere Solarkraftwerke zu bauen (Sonne ist ja reichlich vorhanden), wurden nur einige wenige konventionelle Kraftwerke gebaut, die schon schnell an ihre Kapazitätsgrenzen gestossen sind. Es braucht nur wenige Raketen, um diese Kraftwerke zu treffen. Hinzu kommt, dass sich viele hochgefährliche Industrieanlagen in unmittelbarer Nähe dicht besiedelter Gebiete befinden. So ergaben eine wissenschaftliche Studie und zahlreiche offizielle Berichte, dass z.B. ein Raketentreffer im riesigen Ammoniak-Lagertank in der Nähe von Haifa, welcher 14.400 Tonnen Giftstoff beinhalten kann, den Tod von bis zu 200.000 Menschen verursachen könnten. Der Aktivist und Ingenieur Shabtai Azriel sieht darin eine existenzielle Gefahr für Israel und warnt seit Jahren vor einer solchen Katastrophe. Er weist darauf hin, dass nach dem US-Atombombenabwurf in Nagasaki „lediglich“ 70.000 Menschen starben. [xxiii].
Wie Israel auf die Tötung Hundertausender Staatsbürger reagieren würde, kann man sich gut vorstellen: Die ganze Region würde dann in Schutt und Asche gelegt– es gäbe ein veritables Armaggedon, der Traum christlicher Fundamentalisten, die deshalb Israel unterstützen.
Schon heute besteht also, ohne eine eventuelle iranische Atombombe, sogar mit der libanesischen islamistischen Organisation Hizballah ein Gleichgewicht des Schreckens. Die israelischen Machthaber sollten dieser Situation Rechnung tragen und nicht mit dem Leben von Menschen - auch jenem ihrer eigenen Bürger - russisches Roulette spielen, wie sie dies beispielsweise im Sommer 2006 im Krieg gegen die Hizballah taten.
Auch wenn israelische Generäle immer wieder Friedensbemühungen zu sabotieren wissen und oft sogar mit der unbeabsichtigten Hilfe der Gegenseite rechnen können, ist es an der Zeit, zumindest Sicherungsmechanismen aufzubauen, damit kein Spinner auf die Idee kommt, auf den roten Knopf zu drücken. Schöner wäre es zweifelsohne, wenn die Bemühungen für einen gerechten Frieden gestärkt werden könnten; wenn beispielsweise Palästinenser und Israeli endlich eine effektive ANC-ähnliche Anti-Apartheid-Bewegung aufbauen würden.
Ganz aussichtslos ist dies nicht, denn es gibt auf beiden Seiten Menschen, die gegen den verbrecherischen Unsinn und gegen die Entscheidungsträger sind, die primär ihre eigenen korrupten Interessen verfolgen. So sagte der israelische Unternehmer Asher Luk, der langjährige Erfahrung im Handel mit Gaza hat, in einer populären TV-Sendung: »Was hätten Sie als Israeli gemacht, wenn man Sie acht Monate lang zuhause eingesperrt hätte? ...Es gibt keinen Frieden mit Gaza ohne eine wirtschaftliche Basis… Wir müssen umdenken. Wir müssen unseren Nachbarn helfen«.
Und einer von den sehr wenigen palästinensischen Arbeitern, der noch einen Job an einem Grenzübergang hat, sagte im gleichen Fernsehbeitrag: » Hoffentlich werden sich alle besinnen und es wird Frieden geben. Und wenn es keinen gibt, dann soll zumindest Ruhe herrschen. So dass unsere und Eure Kinder in den Kindergarten und zur Schule gehen können«. Und ein anderer fragte: » Es ist schade für die kleinen Kinder, nicht wahr? Unsere und Eure![xxiv]«
[i] Eine erklärungsbedürftige Politik, unsignierter Hauptkommentar, Ha’aretz, 14. März 2008
[iii] Ze'ev Schiff , "Es gab keinen Fehler, den wir in Gaza machen konnten, und den wir nicht gemacht haben.", Ha'aretz 5.4.1993
[iv] A Clean Break: A New Strategy for Securing the Realm, The Institute for Advanced Strategic and Political Studies' and "Study Group on a New Israeli Strategy Toward 2000", July 8, 1996. http://www.iasps.org/strat1.htm
[vi] Ben Kaspit, When the Intifada Erupted, it was finally clear to all: Israel is Not a State with an Army but an Army with a State, Ma'ariv 6. + 13.9. 2002
[vii] Doron Rosenblum, Ha’aretz, 30.8.2002 oder Benn Aluf, The Army Dictates and the Politicians Abide, Ha’aretz 8.8.2002
[xi] Amir Oren, Hamas' victory of deterrence, Ha‘aretz, 21.3.2006
[xiii] Der Autor war als Jungsoldat in einem Kibbuz in der Gegend stationiert und kann sich noch an solche Frühwarnungen erinnern.
[xiv] S. New York Times Artikel vom 11.5.1997
[xviii] Das umstrittene Vilnai-Zitat wurde direkt aus dem israelischen Nachrichten-Portal Nana10 übersetzt, welches als erstes eine genaue Transkribierung von Vilnais Aussage veröffentlichte . Vilnai: Die Palästinenser werden eine noch grössere Katastrophe auf sich ziehen., Nana10-Nachrichten, 29.2.2008, 09:38 Uhr http://news.nana10.co.il/Article/?ArticleID=540520&sid=126
[xix] Interview mit Matan Vilnai, Moderatoren: Yaron London und Motti Kirschenbaum, TV-Sender Kanal 10, 28.2.2008
[xxi] Lilach Shoval, IDF übte die Eroberung des Gazastreifens, Israel Hayom, 20.3.2008
[xxii] Amir Buchbut, Verliert Barak den Titel »Mr. Security«?, Ma’ariv 21.3.2008
[xxiv] Israel Rosner und Moav Vardi, Gaza ist hier, in Aviv Druckers und Ofer Shelachs Freitags-Journal, TV-Sender Kanal 10, 21.03.2008
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