Inamo, Heft Nr. 60, Jahrgang 15, Winter 2009, 23. Dezember 2009
In Israel entbrannte kürzlich erneut die Diskussion um die Militärdienstverweigerung. Die israelischen Medien vergleichen die beiden Widerstandsformen, die des Friedenslagers und die der Ultranationalisten, die den Dienst verweigern, sollte die Regierung Siedlungen räumen oder sogar einen Baustopp forcieren. Die Beschreibung der Ähnlichkeiten und Unterschiede und deren Analyse demonstriert den Zerfall des politischen Systems in Israel und weist auf mögliche Entwicklungen hin. Mit dem zunehmenden Misstrauen gegenüber der Regierung, dem Parlament und politischen Parteien, wächst das revolutionäre (rechte) Potential im Land. Der allgemeine Wunsch nach einer radikalen Änderung wird größer. Gleichzeitig nimmt die Ablehnung gegenüber den staatlichen Institutionen zu. Eine Revolte von unten zeichnet sich ab. Sollten die Rechtsradikalen die Armeeführung übernehmen, wird es klare politische Konsequenzen geben: ein Großisrael ohne Araber.
Die israelischen Ultranationalisten sind die wirkungsvolleren Wehrdienstverweigerer
Die israelischen Ultranationalisten sind die wirkungsvolleren Wehrdienstverweigerer
Von Shraga Elam
In der durch und durch militarisierten Gesellschaft spielt die Wehrdienstverweigerung in verschiedenen Formen eine sehr zentrale Rolle. Die Öffentlichkeit nahm in den letzten Jahren nur die Befehls- und Dienstverweigerung von Friedensaktivisten zur Kenntnis. Spätestens seit der Evakuierung der Siedlungen im Gazastreifen 2005 wird dem gleichen Phänomen bei Rechtsradikalen1 mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Geht man gegen pazifistische Organisationen wie "New Profile", die Wehrdienstverweigerer unterstützen, mit rechtlichen Mittel vor, so ist das bei den Rechtsradikalen nicht der Fall.
Man muss zwischen einer bewussten politischen oder moralischen Verweigerung und einer unbewussten, oft "egoistische" oder "graue" Verweigerung genannt, unterscheiden. Bei der zweiten Kategorie geht es unter anderem auch um Menschen, die die Regierungspolitik grundsätzlich unterstützen, jedoch den persönlichen Preis nicht bezahlen wollen, sei es in Form von häufigem bzw. gefährlichem Militärdienst, einer großen Steuerlast oder Lebensgefahr durch die instabile Situation. So kam zu dem verlustreichen Oktoberkrieg von 1973 (in Israel Jom Kippur genannt) eine hohe Auswanderungswelle. Damit drückten die Emigranten ihre nonverbale Vertrauenskrise gegenüber der politischen und militärischen Führung aus. Die Mehrheit dieser Auswanderer ist jedoch bis heute sehr zionistisch eingestellt, obwohl sie mit ihrer Migration gemäß der zionistischen Ideologie einen "großen Verrat" begingen.
Abgesehen von der noch immer bestehenden Auswanderung, die durch die Wirtschaftskrise allerdings erschwert wird, kann man zwei andere Formen der stillen Verweigerung beobachten: Mittels verschiedenen Tricks wird der Militärdienst entweder punktuell (bestimmte Reservedienste) oder gänzlich vermieden. Die andere Erscheinung ist die so genannte "innere Emigration", was man in Israel früher als "kleinen Kopf" (rosch katan) – also Dienst nach Vorschrift – bezeichnete. Die genauen Zahlen dieser grauen Verweigerung sind sehr schwer zu eruieren. Klar ist, dass es um ein recht verbreitetes Phänomen geht, Äußerungen der Armeeführung zum Trotz, dass die Motivation, zu dienen, sehr hoch ist. Sie verpasst jedoch keine Chance, eine Gegenkampagne zu lancieren. So werden Offiziere in Gymnasien geschickt, um Schüler der militaristischen Gehirnwäsche zu unterziehen.
Nachschub aus den alten Eliten bleibt aus
Man kann immer wieder Meldungen in den israelischen Medien finden, wonach beispielsweise siebenmal so viele Soldaten zu erscheinen haben, als tatsächlich nötig wären, wenn Reservisten zum Dienst einberufen werden. Der Soziologe Yagil Levy beobachtet eine klare Änderung dahingehend, dass Nachkommen der alten Eliten aus den Metropolen oder aus den Kibbutzim immer weniger unter den Offizieren und Kampfeinheiten vertreten sind2. Er meint, dass die soziale und geographische Peripherie – hauptsächlich das national-religiösen Spektrum – in der Armee entscheidender werde.
Aufgrund dieser Entwicklung hat die Verweigerung von rechts mehr Möglichkeiten, auf die Politik Einfluss zu nehmen, als diejenige aus dem Friedenslager. Letztere ‚Refusniks' bleiben marginal, auch wenn sie in den in- und ausländischen Medien immer wieder für Schlagzeilen sorgen. Die radikalen Teile der Friedensbewegung folgen in etwa der alten Parole der deutschen Friedensbewegung »Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin«. Damit werden Kriegsverbrechen allerdings nicht verhindert. Es ist insofern nicht verwunderlich, dass ein Aufruf an die wenigen "anständigen" israelischen Soldaten, Kriegsverbrechen beispielsweise mittels Computer-Technologie zu verhindern, von den israelischen Friedensbewegten mehrheitlich nicht unterstützt wurde 3.
Die Rechtsradikalen hingegen wissen genau, wie sie ihre Linie in der Armee aktiv vorantreiben können, um nicht nur die Ausführung von unbeliebten Befehlen, sondern auch deren Erlass zu verhindern. Diese Ultranationalisten gehen mit mehr Überzeugung, Mut und Phantasie als die "Linken" an die Sache ran. Yagil Levy weist darauf hin, dass die Armeeführung immer weniger Kontrolle über die Rechtsradikalen in ihren Reihen hat4. Er übersieht dabei aber, dass diese Führung seit Jahren sehr stark von solchen Fanatikern beeinflusst wird und selbst nicht selten die Politik umgeht, wenn diese nicht mitmacht. So gibt es genug Beweise dafür, dass das Oberkommando mit seiner von der Regierung unbewilligten Überreaktion auf die palästinensischen Demonstrationen im Herbst 2000 die zweite Intifada auslöste. Damit wurde der Osloer "Friedensprozess" gestoppt und Bahn frei für die schleichende ethnische Säuberung der Palästinenser gegeben. Es wurde also eine Politik eingeschlagen, die absolut der Linie der Ultranationalisten entsprach5.
Im israelischen öffentlichen Diskurs wird der Versuch unternommen, sowohl die Wehrdienstverweigerung von rechts als auch vom Friedenslager zu unifizieren. Oberflächlich gesehen scheint diese Gleichsetzung gerechtfertigt zu sein, und manchmal treffen sich die beiden gegensätzlichen Pole sogar, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. So riefen zum Beispiel auch Rechtsradikale zur Dienstverweigerung während des 33-Tage-Kriegs im Libanon 2006 auf. Sie waren nicht gegen die Zerstörung des Libanon, sondern fürchteten, dass der damalige Premier Ehud Olmert – wie er selbst erklärte – nach dem Krieg Westbank-Siedlungen evakuieren würde und dass dieser Krieg erklärt worden sei, um in Israel eine breite Unterstützung für die Räumung zu ermöglichen.
Soweit es um eine Verweigerung aus Gewissensgründen geht, scheint es – oberflächlich betrachtet – tatsächlich eine starke Ähnlichkeit zu geben. Denn auch die Rechtsradikalen argumentieren mit ihrem Gewissen, das ihnen verbietet, Teile von Eretz Yisrael zu räumen. Wenn israelische Nationalisten daran glauben, dass Gott ihnen das Land und das Recht, andere Menschen zu unterdrücken bzw. zu vertreiben gegeben habe, so stellt ihre Weltanschauung genauso ein Wertesystem dar wie von Friedensaktivisten, die die Verletzung von Menschenrechten, internationalen Gesetzen und Kolonialismus verabscheuen. Hier prallen zwei gegensätzliche Wertesysteme aufeinander, die ausnahmsweise durch eine ähnliche Handlung – nämlich durch Dienst- oder Befehlsverweigerung – zum Ausdruck kommen.
Das revolutionäre Potential und die politische Ausstrahlung der Ultranationalisten ist zweifelsohne viel grösser als im Friedenslager, was auch damit zu tun hat, dass die Rechtsradikalen über eine viel größere institutionelle Infrastruktur und über eine geschlossene Ideologie verfügen. So wird ihre Auslegung der Religion in zahlreichen vom Staat unterstützten Jeschivot (fromme jüdische Erziehungsanstalten) verbreitet und die vielen ihnen nahestehenden Organisationen genießen staatliche Förderung.
Diese messianisch-religiöse Strömung war bis 1967 eine von den säkularen Machteliten belächelte Randerscheinung. Ihr Vormarsch begann nach dem Sieg im Krieg von 1967 - eine logische Folgerung des zunehmenden Begründungsbedarfs für die Besetzung neuer Gebiete. Mit dem wachsenden Wohlstand nach dem Krieg infolge massiver ausländischer Investitionen und des Zerfalls des israelischen Sozialismus entstand eine ideologische Leere, die die Minderheit messianischer Eiferer mit einer effizienten Führung geschickt zu füllen wusste.
"Time ist short"
Diese kleine Bewegung konnte nicht nur wachsen, sondern hat sich zudem radikalisiert und steht jetzt kurz vor der Machtergreifung. Sie betrachtet die meisten Politiker als korrupte Opportunisten und pflegt zahlreiche ‚Dolchstoßlegenden'. Für sie gilt z.B. der jetzige Staatspräsident, Shimon Peres, als Hauptverräter. Die Ultra-Rechtsradikalen erklären auch ihre Niederlage bei der Räumung der Siedlungen im Gaza-Streifen 2005 mit einem Verrat durch die rechts außen stehende Führung der Siedlerbewegung, die angeblich von der Regierung gekauft worden sei und damit den Widerstand gegen die Räumung gebrochen habe.
Die heutige Regierung, ohnehin nicht gerade erpicht, den Siedlungsbau zu stoppen, geschweige denn, Siedlungen zu räumen, setzt jetzt polizeiliche Ordnungskräfte ein, um den Schein eines Baustopps zu wahren und einen direkten Konflikt mit den rechtsradikalen Armeeangehörigen zu vermeiden. Aber auch die Polizei ist vom ultranationalistischen Gedankengut kontaminiert, und sie wird kaum in der Lage sein, einen solchen Stopp großflächig zu erzwingen.
Die vollständige Übernahme der Armee durch die Rechtsradikalen ist nur eine Frage der Zeit. In einem Land, das weitgehend von gegenwärtigen und ehemaligen Generälen beherrscht wird, sind die politischen Konsequenzen klar. Auf die Gefahr des "Jewish uprising in the territories" weist Zeev Sternhell in Haaretz hin. 6
Kann diese bedrohliche Entwicklung noch gebremst werden?
Israel ist stark von den USA abhängig. Nur, will sich die Obama-Administration wirklich dafür einsetzen, dass die für die Region und damit für die ganze Welt bedrohlichen Kräfte gestoppt werden?
Dies scheint zweifelhaft zu sein; zumal in der heutigen Situation praktisch nichts anderes als eine gewaltsame Unterdrückung der israelischen Rechtsradikalen Früchte tragen könnte. Es gibt keine nennenswerten israelischen Kräfte, die sich dazu fähig fühlen.
Shraga Elam, Journalist und Publizist. Träger des australischen Golden Walkey Award für ausgezeichneten Journalismus 2004.
1 Unter Rechtsradikalen sind im israelischen Kontext religiöse jüdische, aber auch säkulare jüdische Ultranationalisten zu verstehen.
2 Dr. Yagil Levy, "From People's Army to an Army of the Peripheries", Carmel Press [Hebrew], 2007.
3 Shraga Elam "Passive" refusal is not enough to prevent war crimes, January 9, 2009.
4 Siehe. z.B. "The IDF is disintegrating", By Yagil Levy , Ha'aretz, 05/11/2008.
5 Shraga Elam, 60 Jahre Israel: Steht ein Armageddon bevor?, Hintergrund 9. Mai 2008.
6 Haaretz, 05.12.09. Um dies zu verhindern müssten Barak und Netanyahu gegen die Siedler vorgehen. Sollten sie kapitulieren, wären ihre Karrieren beendet. "Time is short, and it is a time of trial. History does not forgive those who fail at the crucial moment."
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